Ist die argentinische Milchkuh der Schweizer Rohstoffhändler tot?
Vaca Muerta, im argentinischen Patagonien: Das Gebiet ist das zweitgrösste Schiefergas- und das viertgrösste Schieferöl-Vorkommen der Welt. Von dort exportieren die Schweizer Rohstoffhändler Mercuria und Trafigura in die ganze Welt. Doch wird das Projekt die fallenden Ölpreise überleben? Darüber werden der IWF und Argentiniens Regierung schon bald entscheiden.
Es handelt sich um ein riesiges Gebiet im Nordwesten Patagoniens. Sein Name war vielleicht noch nie so treffend wie heute. Nicht dass dort jemals eine Kuh gestorben wäre – der Name rührt eher von der Form des Gebiets aus der Vogelperspektive. Aber in Zeiten der fast globalen Ausgangssperre und des freien Falls des Ölpreises könnte «Vaca muerta» an Aussagekraft gewinnen.
Das Potenzial dieser 30’000 Quadratkilometer grossen Lagerstätte, in der erst seit etwa zehn Jahren gebohrt wird, ist enorm. Doch es gibt Widerstand. Grund sind die Auswirkungen des sogenannten «Frackings» auf die Rechte der Indigenen, die Menschenrechte und die Umwelt.
So wurden Schächte in Land gegraben, das traditionell dem indigenen Volksstamm der Mapuche gehört. Das ist laut der Mapuche-Konföderation der regionalen Hauptstadt Neuquén, die 65 Gemeinden umfasst, ein Verstoss gegen das Völker- und das Gewohnheitsrecht.
Auch erfordert die Methode des «Frackings» riesige Mengen an Wasser und giftigen Chemikalien. Grundwasser Boden und Luft werden verseucht, weil dabei Methan in die Atmosphäre gelangt, das zudem zur globalen Erwärmung beiträgt. «Fracking» kann auch Erdbeben verursachen und es kommt häufig zu Arbeitsunfällen.
Im Oktober 2018 forderte der in Genf ansässige UNO-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR) die argentinische Regierung auf, «die gross angelegte Ausbeutung unkonventioneller fossiler Brennstoffe durch hydraulische Frakturierung in der Region Vaca Muerta unter Berücksichtigung ihrer Verpflichtungen aus dem Pakt und ihrer Verpflichtungen aus dem Pariser Abkommen zu überdenken».
Vaca Muerta als Garantie
Beim Internationalen Währungsfonds (IWF) blieb dieser Appell ungehört. Als er Argentinien eine neue Tranche des Kredits von insgesamt 57 Milliarden Dollar gewährte – 44 Milliarden davon sind bereits ausgezahlt –, betrachtete er das Schieferöl und -gas aus Vaca Muerta als Garantie für die Solidität der argentinischen Wirtschaft.
Mehrere Ölkonzerne sind in der Region tätig: die staatliche Gesellschaft YPF, Total, Chevron, ExxonMobile, BP, Shell, Equinor, Gazprom und Phoenix Global Resources, deren Mehrheitsaktionär (84%) der Schweizer Händler Mercuria ist. Auch Trafigura ist vor Ort.
«Trafigura arbeitet mit den Produzenten zusammen, um ein wachsendes Handelsportfolio mit Rohöl und Erdgas aus dem Neuquén-Becken aufzubauen. Wir besitzen und betreiben eine komplexe Raffinerie in Bahia Blanca, die durch eine 600 km lange Pipeline mit dem Becken verbunden ist», sagt eine Sprecherin der niederländisch-schweizerischen Gruppe gegenüber SWI swissinfo.ch.
Trafigura sagt auch, dass eine zuverlässige Lösung für kleine und mittelgrosse Schieferproduzenten aus Vaca Muerta sowie für konventionelle Produzenten entlang des Neuquén-Beckens angeboten werde: «Dazu gehören klare Bedingungen, kostengünstige Finanzierung, die Möglichkeit, die Mengen zu erhöhen und die Nutzung unserer Infrastruktur und unseres Logistiknetzwerks für den Zugang zu internationalen Märkten», so das multinationale Unternehmen.
Argentinische Medien berichteten, dass Trafigura, nachdem es 350 Millionen Dollar in Argentinien investiert hatte, Ende 2017 unter der Marke Puma Energy aktiv geworden sei. Puma Energy habe ein Netz von 263 Tankstellen von Petrobras, ein Schmiermittelwerk in Avellaneda (in der Nähe von Buenos Aires), einen Frachtterminal in Caleta Paula und ein Logistik- und Lagerzentrum in Campana (ebenfalls in der Nähe von Buenos Aires) erworben.
Die Büros von Mercuria befinden sich in Mendoza, einer Provinz, die unter schwerem Wassermangel leidet und in der wichtige Volks- und Umweltbewegungen gegen das «Fracking» opponieren. Phoenix Global Resources sei sehr interessiert an den unkonventionellen Möglichkeiten der Ausbeutung von rund drei Quadratkilometern in Vaca Muerta und anderswo in Argentinien, sagt ein Sprecher der Firma.
Die Krise schlägt zu
Der Rückgang des Erdölpreises bleibt jedoch nicht ohne Auswirkungen auf die Tätigkeiten der beiden Schweizer Rohstoffhändler. «Die COVID-19-Pandemie hat zu einem deutlichen Rückgang der Nachfrage nach raffinierten Produkten geführt», sagt der Sprecher von Trafigura. «Unsere Raffinerie in Bahía Blanca arbeitet jedoch weiterhin mit 90% ihrer Kapazität.» Die lokale Presse berichtet jedoch, dass die Aktivität der Raffinerie im Mai auf 50% sinken könnte, was der Sprecher bestätigt.
Die Firma Phoenix ist nach Angaben eines Sprechers daran, ihre Kapitalausgaben zu reduzieren und andere Initiativen zur Kostensenkung zu prüfen. «Das Auftreten der Pandemie hat zu einem erheblichen Rückgang der Nachfrage nach Öl geführt. Dies zwingt uns, die Produktion in unseren Raffinerien zu reduzieren oder einzustellen. Phoenix überdenkt seine Position, hat aber vorerst keine andere Wahl, als die Rohölförderung aus seinen Lizenzen in Puesto Rojas, Atamisqui und Tupungato einzustellen.»
Für Hernan Scandizzo vom Observatorio Petrolero Sur, einer Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Neuquén, befindet sich Vaca Muerta im Verfall: «Im Moment ist die Produktion auf ein Minimum reduziert, und die meisten Angestellten sind arbeitslos», erklärt er. «Den Gewerkschaften ist es gelungen, 60% ihrer Löhne und Gehälter zu erhalten. Das Problem ist, dass die Provinz Neuquén (in der sich der Grossteil der Betriebe von Vaca Muerta befindet) ihre Produktion nie diversifiziert hat, obwohl in der Vergangenheit ein antizyklischer Fonds eingerichtet wurde. Und jetzt wissen sie nicht, wie sie die Gehälter der Beamten im April bezahlen sollen».
Ein «anachronistisches» Projekt
Scandizzo weist darauf hin, dass der Treibstoffverbrauch in Argentinien um 75-80% eingebrochen ist. Da die Ölkonzerne behaupten, dass Vaca Muerta bei einem Barrel zu weniger als 50 Dollar nicht rentabel sei und der Brent bei 20 Dollar liegt, wird diskutiert, ob der Staat ein Barrel zu 48 Dollar subventionieren soll – indem er sich noch weiter verschuldet.
«Diese Krise zeigt die Verwundbarkeit einer Monoproduktion in der Provinz Neuquén, die vom Öl abhängt», sagt der Forscher. Diese Krise betreffe die gesamte Bevölkerung. Die Vorteile der Monoproduktion aber seien einigen wenigen vorbehalten. «Ein Land kann nicht auf ein Projekt setzen, zu dem es nichts zu sagen hat, da Entscheidungen und Preise nicht in seiner Kontrolle liegen.» Ausserdem verschärfe das Projekt die Klima- und Umweltkrise, welche die gesamte Menschheit betreffe, so Scandizzo. «In dieser Situation des globalen Zusammenbruchs ist das Projekt völlig anachronistisch».
In den kommenden Wochen werden der IWF und die argentinische Regierung über das Schicksal von Vaca Muerta entscheiden. Dies wird ein Test für die Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft sein, nach der Pandemie in eine Welt post fossiler Brennstoffe überzugehen – oder auch nicht.
(Übertragung aus dem Französischen: Kathrin Ammann)
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