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Demokratieförderung konkret: das Beispiel Georgien

Wahllokal Georgien
Keystone / Zurab Kurtsikidze

Am 31. Oktober wählen drei Millionen Georgierinnen und Georgier ein neues Parlament. In einer Region geprägt von autoritären Führern, Krieg und eingefrorenen Konflikten alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Dabei spielt die Demokratieförderung im Kaukasus eine wichtige Rolle – auch jene der entfernten Schweiz.

Ein Blick auf die Weltkarte genügt. Georgien liegt nicht nur geografisch und topografisch an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien. Auch geopolitisch und wirtschaftlich ist die Lage unübersichtlich. Von Norden her unterstützt der mächtige Nachbar Russland zwei seit den 1990-er Jahren abtrünnige Provinzen des Landes, Abchasien und Südossetien. Im Südosten stehen sich zwei kriegsführende Staaten, Armenien und Aserbeidschan gegenüber. Und dann gibt es noch eine 270 Kilometer lange Grenze zur zunehmend autoritär regierten Türkei. Trotzdem gehört Georgien laut dem Forschungsinstitut «Varieties of Democracy» zu jenen zwanzig Staaten in der Welt, die in den letzten zehn Jahren die grössten Fortschritte in Richtung DemokratieExterner Link gemacht haben.

«Dank unserer stärker werdenden Demokratie ist es uns gelungen, mit vielen anderen demokratischen Staaten in der Welt eine enge Zusammenarbeit aufzubauen», sagt der frühere Parlamentarier Tedo Japaridze, der heute den Wirtschaftsverband Anaklia in der Hauptstadt Tiflis leitet. Bei den Wahlen vom 31. Oktober beteiligen sich nicht weniger als 66 registrierte Parteien. Sie werden nach einem neuen Wahlgesetz gewählt, dass zu den fortschrittlichsten der Region gehört.

Fahnenmeer in Georgien
Wo die EU noch ein Sehnsuchtsort ist: Die Westorientierung von Georgien ist auch eine Abgrenzung gegen den übermächtigen Nachbar Russland. Copyright 2019 The Associated Press. All Rights Reserved.

Neben gegenüber früher viel tieferen Hürden – für den Einzug ins nationale Parlament benötigt eine Partei neu nur noch 1% aller Stimmen statt wie früher 5% – wird in einer Übergangsfrist bis zum Jahre 2028 auch eine Geschlechterquote von 25% eingeführt. Bei den letzten Parlamentswahlen schafften 22 Georgierinnen den Sprung ins Einkammerparlament (Anteil 14,8%). 2018 wurde bei den Präsidentschaftswahlen mit Salome Surabischwili erstmals in der Kaukasus-Region eine Frau ins höchste Staatsamt gewählt.

Im Ausland sehr aktiv

Die Schweiz ist in den Vorbereitungen der Wahl involviert. Gemeinsam mit der Zentralen Wahlkommission Georgiens und weiteren Organisationen hat sie ein Dokument erarbeitet, das an die politischen Parteien des Landes gerichtet ist.

Dieser «Code of ConductExterner Link» (CoC) zielt darauf ab, ein Set von Regeln für den Wahlkampf festzusetzen. Die Parteien, an die er gerichtet ist, sollen sich damit zu einem «fair play» bekennen. Ein CoC ist kein rechtlich bindender Vertrag, sondern eine Abmachung, gemeinsam ethische Standards festzulegen – und diese auch zu befolgen.

Die weltweite Demokratieförderung ist in der Schweiz ein VerfassungsauftragExterner Link. Auch dieser Bestimmung ist es zu verdanken, dass die Schweiz im Ausland – entgegen dem Mythos des neutralen Landes, das äussere Einmischungen ablehnt – in demokratiepolitischer Hinsicht sehr aktiv ist.

Auch in Südostasien ist die Schweiz mit Demokratieförderung präsent. Vor zwei Jahren berichtete unser Demokratieexperte während einer Rundreise von den Schweizer Bemühungen:

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Die Verhandlungen stehen im Zentrum

Warum sind solche Regeln wichtig? Im Wahlkampf wird nicht selten mit harten Bandagen gekämpft, schmutzige Tricks gehören oft dazu. Beim CoC steht nicht unbedingt das Dokument im Fokus, sondern der Entstehungsprozess: Der Konsultationsprozess mit den Parteien ist in der Regel das eigentliche Ziel. Durch ihre Teilnahme sollen demokratische Debatten und Dialogbereitschaft gestärkt werden, sowie ihre Bereitwilligkeit, die Resultate von Wahlen und Abstimmungen zu akzeptieren.

Solche Abmachungen sind zu einem üblichen Instrument für die Demokratisierung in Transitionsländer geworden. Wahlen sind von Natur aus kompetitive Angelegenheiten, bestehende Spannungen können im Vorlauf zu Konflikten oder Gewaltausbrüchen führen. Allerdings sind auch gefestigte Demokratien nicht von Spannungen gefeit – ein Blick in den amerikanischen Wahlkampf zeigt, dass sich auch Parteien und Staaten mit langer demokratischer Tradition bedenklich entwickeln können.

Wäre ein Code of Conduct auch für die USA empfehlenswert? Warum das nicht so einfach ist, können Sie hier nachlesen:

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Georgien ist aus der Konkursmasse der Sowjetunion entstanden und erklärte sich im April 1991 unabhängig. Wie bei vielen ex-sowjetischen Republiken verlaufen die politischen Konfliktlinien im kaukasischen Land hauptsächlich zwischen denjenigen, die eine Anbindung an den Westen wünschen und denjenigen, die sich mehr Richtung Russland orientieren. Diese Herausforderung hat der frühere Aussenminister Didier Burkhalter im Sommer 2015 in einer Rede unterstrichenExterner Link:

Dem Westen und Russland ist es nicht gelungen, eine gemeinsame Vision für diese Region zu entwickeln. Vier Monate nachdem die NATO der Ukraine und Georgien 2008 eine Mitgliedschaftsperspektive in Aussicht stellte, kam es zum Georgienkrieg und der Anerkennung Südossetiens und Abchasiens durch Russland. Moskau zog rote Linien und warf der NATO eine Einkreisungsstrategie vor. Russlands Anspruch auf Einflusswahrung in seiner Nachbarschaft ist seither immer deutlicher zu Tage getreten.

Im Grossen und Ganzen werden Georgien positive Schritte in Richtung Demokratisierung bescheinigt. Die MedienlandschaftExterner Link ist pluralistischer und kritischer geworden, in Sachen KorruptionExterner Link hat sich vieles gebessert – das Land steht deutlich besser da als seine Nachbarn. Mit nur 3,7 Millionen Einwohner hat die Republik eine relativ blühende Parteienlandschaft. Diese orientieren sich zwar stark an ihre politischen Führer, sind aber Zeugnis einer politischen Diversifizierung.

Dennoch wird Georgien verschiedentlich als «defekte Demokratie» bezeichnet und ist nicht vor Rückschlägen gefeit. So wurden bereits früher CoC unterzeichnet: Etwa bei den letzten Parlamentswahlen 2016, nachdem es im Vorfeld zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Mitglieder verschiedener Parteien und Übergriffe gegen Politiker gekommen war. Innenpolitische Streitigkeiten können noch immer heftig ausgetragen werden. Immerhin: Die Gespräche, die zur Ausarbeitung des CoC führten, wurden von georgischen Politikern selbst initiiert.

Vertrauen dank langjährigem Engagement

Dieses Jahr hat die georgische Zentrale Wahlkommission die Schweiz für diese Aufgabe angefragt. Das kommt nicht von ungefähr: Bereits bei den georgischen Präsidentschaftswahlen 2018 half die Schweiz bei der Aushandlung ethischer Prinzipien, zu denen sich die zahlreichen Anwärterinnen und Anwärter bekannten.

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Dank ihrer langjährigen Präsenz vor Ort geniesst die Schweiz einen guten Ruf bei den georgischen Institutionen – etwa wegen der Entwicklungszusammenarbeit, die seit der Unabhängigkeit des Landes besteht. Und seit dem Kaukasuskrieg 2008 leistet die Schweiz auch hier «gute Dienste»: Nach dem Konflikt brachen Georgien und Russland die diplomatischen Beziehungen ab, seither vertritt die Schweiz die diplomatischen Interessen der beiden Länder als die jeweilige Schutzmacht.

In diesem Jahr schickt die Schweiz zudem im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Wahlbeobachter nach Georgien, wie es auf Nachfrage vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten heisst.

Überschätzte Initiative?

Andreas Gross, ehemaliger SP-Nationalrat und langjähriger Wahlbeobachter, ist gegenüber solchen Initiativen hingegen kritisch. Gross hat 99 Wahlen beobachtet, darunter mehr als ein Dutzend in Georgien selber.  «Die Standards für die Durchführung von korrekten Wahlen und Abstimmungen sind schon lange etabliert. Wenn sich Politiker nicht daran halten wollen, dann kann die Schweiz herzlich wenig machen.» Die OSZE und der Europarat, wo Gross selber lange Mitglied war, hätten bereits vor über zwanzig Jahren entsprechende Richtlinien herausgegeben. «Die sind allen Beteiligten in Georgien, das im Unterschied zu Nachbarstaaten durchaus friedliche Machtablösungen schon hinter sich hat, wohl bekannt.»

Der Einfluss der Schweiz dürfe da also nicht überschätzt werden, denn das Grundproblem bleibe weiterhin bestehen, so Gross: «Wollen Parteien oder einzelne Politiker die Macht nicht teilen und den Rechtstaat missachten, bringen solche Vereinbarungen nicht viel.» Hinzu komme, dass die Schweiz einige dieser Anforderungen selber nicht erfülle, etwa bei der Transparenz der Parteienfinanzierung. Der Europarat hat die Schweiz diesbezüglich schon oft gerügt.

Weshalb sich die Schweiz trotz aller Probleme weiterhin der Demokratieförderung verpflichtet fühlt, können Sie in unserem Interview mit Bundesrat Ignazio Cassis von 2018 lesen:

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Das Engagement im Kaukasus ist dennoch voll auf der aussenpolitischen Linie der Schweiz, wie sie in der Aussenpolitischen Strategie 2020-2023Externer Link formuliert ist. Durch die Verbindung von friedenspolitischen Instrumenten wie Mediation, präventive Diplomatie und Dialogfazilitation sowie technischem Fachwissen entstehen Initiativen wie der georgische CoC.

Das klingt noch nicht nach einem grossen politischen Wurf. Die Symbolwirkung sollte jedoch nicht unterschätzt werden – die Transition zur Demokratie besteht aus kleinen Schritten, die meist wenig sichtbar sind, aber den Boden für tiefergreifende Reformen vorbereiten.

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