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Schweiz-EU: Bern plant das Vakuum

Schweizer Bundesrat
Three members of the Federal Council: Guy Parmelin (Economy), Ignazio Cassis (Foreign Affairs) and Elisabeth Baume-Schneider (Justice) on October 18 in Bern. © Keystone / Peter Schneider

Die Beziehung Schweiz-EU sollte nach den Wahlen geklärt werden. Nun wirft die Schweiz zwei EU-Staaten Brüche der Personenfreizügigkeit vor. Wie geht das zusammen?

Diese Nachricht ging etwas unter: Die Schweiz beschuldigt die EU, sie diskriminiere Schweizer Staatsangehörige.

So stand es Ende Oktober geschrieben in der MedienmitteilungExterner Link des Schweizer Staatssekretariat für Migration (SEM). Es ist die neuste Episode im zusehends zäher werdenden Hin und Her zwischen der EU und dem kleinen Staat, den sie umschliesst: der Schweiz.

«Nicht kompatibel»

Konkret wies die Schweiz die EU bei einem Treffen letzte Woche in Brüssel darauf hin, «dass Schweizer Staatsangehörige in einzelnen EU-Mitgliedstaaten von Gesetzgebungen betroffen sind, die aus Sicht der Schweiz nicht mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen kompatibel sind.»

Diskriminiert die EU tatsächlich Auslandschweizer:innen? In den EU-Mitgliedsländern Finnland und Deutschland jedenfalls sieht die Schweiz dafür Tatbestände. Die Schweizer Botschaften in Berlin und Helsinki hatten entsprechende Beobachtungen nach Bern gemeldet, wie das SEM auf Anfrage ausführt.

Erstens: In Finnland brauchen Schweizer:innen eine Bewilligung, wenn sie eine Immobilie kaufen möchten. «Aus Sicht der Schweiz handelt es sich dabei um eine Diskriminierung von Schweizer Staatsangehörigen, für welche es keine Rechtfertigung gibt», sagt SEM-Sprecher Reto Kormann.

Streitwert: 6 Millionen Euro

Zweitens: Um gestiegene Energiepreise abzufedern, bezahlt Deutschland dieses Jahr allen Rentner:innen eine Pauschale von 300 Euro. Allen, ausser jenen, die eine Rente aus der Schweiz beziehen. Auch dies stelle eine Diskriminierung dar, so der Standpunkt der Schweiz.

Die Vorwürfe fielen im sogenannten gemischten Ausschuss Schweiz-EU zur Personenfreizügigkeit. Dieses Gefäss wurde einst geschaffen, damit beide Parteien darin niederschwellig ihre Anliegen einbringen und austauschen können. Man tagte am 26. Oktober bereits zum 26. Mal.

Wie gross ist also das Problem? Tatsächlich eher klein: In Deutschland leben rund 20’000 Schweizer Rentner:innen. Wenn ihnen allen 300 Euro vorenthalten werden, ist der Streitwert der Sache rund 6 Millionen Euro. So gross ist das Handelsvolumen zwischen Deutschland und der Schweiz in einer einzigen Viertelstunde.

Es gibt also grössere Probleme, insbesondere zwischen den beiden Ländern. (Wir haben hier darüber berichtet.)

Überschaubar ist der Problemdruck auch in Finnland: Dort leben 2000 Auslandschweizer:innen. Die Zahl jener Personen aus der Schweiz, die in Finnland wegen eines Immobilienkaufs eine Bewilligung brauchen, übersteigt wohl kaum die Hundert.

Es sind somit beides Themen, welche die Schweiz gewiss ebensogut direkt mit den beiden Ländern lösen könnte. Stattdessen trägt sie diese nach Brüssel.

Dort will die EU-Kommission nun prüfen, ob diese Klagen der Schweiz überhaupt berechtigt sind. Spitzfindig sind sie auf jeden Fall – gerade mit Blick auf die grossen ungeklärten Fragen zwischen der Schweiz und der EU.

Sand im Getriebe

Aber: Es schadet aus Schweizer Sicht eben nicht, wenn sie mit dem Finger auch einmal in Richtung Brüssel zeigen kann. Denn im Poker um die Regelung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU befindet sich der kleine Alpenstaat seit einiger Zeit in der Defensive. In solchen Phasen kann jedes Körnchen Sand im Getriebe auch eine willkommene Erweiterung der Verhandlungsmasse sein.

Denn auch Brüssel wirft der Schweiz vor, sie diskriminiere EU-Bürger:innen bei der Personenfreizügigkeit. Im Zentrum dieser Anklage stehen die umfassenden Lohnschutzmassnahmen, welche die Schweiz der EU einst abgetrotzt hat.

Diese Massnahmen sorgen dafür, dass EU-Firmen die hohen Schweizer Löhne zahlen müssen, wenn sie ihre Arbeitskräfte in die Schweiz entsenden. Das allein scheint in Brüssel mittlerweile zwar akzeptiert. Beklagt werden aber die «bürokratischen Hürden» der Schweiz, die auf das enge Kontrollregime der Schweizer Gewerkschaften zurückgehen.

Kritik des EU-Kommissars

Nachzulesen ist diese Klage im Bericht des Europäischen ParlamentsExterner Link über die Schweiz. Das EU-Parlament behandelte diesen am 3. Oktober vor weitgehend leeren Rängen. In der halbstündigen Debatte hatte jedoch auch Maroš Šefčovič seinen Auftritt – der EU-Kommissar, der für das Schweiz-Dossier zuständig ist.

Sefcovic
The European Commissioner responsible for Switzerland, Maroš Šefčovič, sees Swiss wage protection as the main problem. Keystone / Olivier Hoslet

Šefčovič verriet dabei, dass die Personenfreizügigkeit das schwierigste Thema in den Gesprächen zwischen Bern und Brüssel sei. «Wir sind der Ansicht, dass die Schweiz ihre Verpflichtungen aus dem bestehenden Freizügigkeitsabkommen derzeit nicht vollständig umsetzt», sagte erExterner Link.

Beim Lohnschutz vollzieht das EU-Parlament laut Gewerkschafter:innen allerdings gerade eine TrendwendeExterner Link. Ein sozialdemokratischer und ein grüner EU-Abgeordneter wollten der Schweiz in derselben Debatte ausdrücklich temporäre Ausnahmen oder ständige Sicherheitsmassnahmen gewähren, damit diese ihren Lohnschutz behalten könne.

Innerhalb der EU hat sich inzwischen herumgesprochen: Die Schweizer Lohnschutz-Massnahmen könnten für viele Mitgliedsländer zum Vorbild werden – gerade weil sie so hoch entwickelt sind. Sie zu schleifen geschähe aus dieser linken Perspektive also zum eigenen Schaden.

EU will «gerechten, dauerhaften Beitrag»

Klartext sprach EU-Vizekommissionspräsident Šefčovič in der Ratsbehandlung des Schweiz-Berichts auch zu den anderen Themen, welche die Schweiz noch zu besprechen versucht: Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs, die Höhe von regelmässigen Eintritts-Geldern in den EU-Markt (Kohäsionszahlungen) sowie die dynamische Rechtsübernahme.

Dazu Šefčovič im Wortlaut: «Grundsätze wie die dynamische Rechtsangleichung und die Streitbeilegung mit einer klaren Rolle für den Gerichtshof der Europäischen Union gehören zu den Schlüsselelementen, die Teil der institutionellen Lösung sein müssen. Gleiches gilt für den gerechten und dauerhaften Beitrag zur Kohäsionspolitik der Union. Dies geht Hand in Hand mit dem Zugang der Schweiz zu unserem Binnenmarkt.»

Maroš Šefčovič calls for dialogue. Keystone / Mark Marlow

Drei Wochen später, am 22. Oktober 2023, wählte die Schweiz ein neues Parlament. Man kann aus dem Resultat nicht ablesen, dass die Stimmung in der Schweiz EU-freundlicher geworden wäre.

Gewonnen hat mit der rechtskonservativen SVP jene Kraft, die den Europäischen Gerichtshof als «fremde Richter» radikal ablehnt. Gestärkt wurde mit der sozialdemokratischen SP auch jene Stimme, die den hohen Schweizer Lohnschutz um jeden Preis verteidigen wird.

Man muss die Zeichen lesen

Das macht es nicht einfach für die Schweizer Regierung. Diese hat der EU ja signalisiert, sie wolle gleich nach den Wahlen Verhandlungen initiieren.

Was also tun? Der Bundesrat hält seine Strategie seit Monaten geheim, man muss die Zeichen lesen. Und dann fallen zwei Dinge auf.

Erstens setzt der Bundesrat auf eine Taktik, die bei der EU in den letzten Jahren kaum mehr funktioniert hat: Er betreibt weiter Lobbying bei vermeintlich einflussreichen Mitgliedsstaaten.

Zweitens: Der Bundesrat glaubt nicht an eine wesentliche Entwicklung im nächsten Jahr. Er plant für eine Phase des Vakuums.

Zum Ersten: Mitte November kommt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf Staatsbesuch nach Bern. Auf der Schweizer Agenda steht dabei vor allem die EU.

Der jurassische Ständerat Charles Juillard ist in die Vorbereitungen involviert. Er sagte der Nachrichtenagentur Keystone-SDA: Die Schweiz wolle ausloten, welche Unterstützung sie von Paris in den EU-Dossiers wie dem Strommarkt oder dem Forschungsprogramm «Horizon Europe» erwarten könne.

Übergangslösungen

Es ist dieses Forschungsprogramm, mit dem die EU den Druck auf die Schweiz hochhält. Sie lässt die Schweiz bei «Horizon» aussen vor. Das schwächt den Forschungsstandort Schweiz und schmerzt insbesondere die Universitäten.

Zum Zweiten: An der ersten Sitzung nach den Wahlen beschloss der Bundesrat, für das nächste Jahr weitere 84 Millionen Franken zu budgetieren, um die Horizon-Verluste zu kompensieren. Damit steigt die Summe, mit der die Schweiz ihrer Forschungslandschaft aus der Patsche hilft, auf 1,85 Milliarden Franken.

Falls eine Assoziierung am Horizon-Paket auch 2024 nicht möglich sei, werde er sich mit weiteren Übergangsmassnahmen befassen, teilte der Bundesrat noch mit. Es wäre eine weitere Übergangslösung, die vierte in Folge.

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