«Für den Bundesrat wird es ungemütlich»
Die Europäische Union lässt das Verhältnis zwischen Bern und Brüssel eskalieren. Die offizielle Schweiz reagiert konsterniert, die Schweizer Presse ernüchtert.
27 Mitgliedsstaaten haben am Mittwoch dem Vorschlag der EU-KommissionExterner Link zugestimmt, die Äquivalenzanerkennung für die Schweizer Börsenregulierung auf zunächst nur ein Jahr zu befristen. Eine Verlängerung soll von Fortschritten beim Rahmenabkommen abhängig sein. Damit brüskiert die EU den Bundesrat. Dieser hatte das Dossier seinerseits bereits mit der Zahlung von 1,3 Milliarden an die EU für Hilfsprojekte in armen EU-Ländern verknüpft. Nun ist das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU angespannt wie seit Jahren nicht mehr. Die Reaktionen von Medien und Politik.
Sebastian Ramspeck, EU-Korrespondent des Schweizer Fernsehens SRF in «10vor10»
«Dieser Entscheid in Brüssel ist höchstens zu einem Drittel mit dem Verhältnis Schweiz-EU zu begründen. Es geht um den Brexit. In Brüssel sieht man die Schweiz als Präzedenzfall, auch als Parallelfall, zu den Briten, die bald aus der Europäischen Union austreten. Da wird die Frage der Finanz- und Aktienmärkte auch eine ganz wichtige Rolle spielen. Die EU hat mit diesem Entscheid auch ein Exempel gegenüber Grossbritannien statuiert. 27 von 28 EU-Staaten haben zugestimmt. Nicht zugestimmt haben – das kann man sich ausrechnen – die Briten. Ich glaube nicht, dass die EU den Entscheid wieder rückgängig macht, nur weil die Schweiz die Kohäsionsmilliarde stoppt. Ich denke, wir steuern auf einen sehr intensiven Konflikt im Verhältnis Schweiz – Europäische Union zu.»
Tages-Anzeiger
«Das Hauptproblem dabei ist nicht, dass man die Gefahr augenscheinlich unterschätzte, als EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker vor einigen Wochen zu Besuch weilte – und alles harmonisch schien. Dass ein Verhandlungspartner unvermittelt die Position wechselt, kann geschehen. (…) Wie aber verschiedene Bundesratsmitglieder darauf in den letzten Tagen reagiert haben: Das verstört. Präventiv wird Vergeltung angekündigt, wird insinuiert, man könnte die Kohäsionszahlung stoppen. Johann Schneider-Ammann (FDP) erklärte die Börsenanerkennung gar zur zwingenden Bedingung für den Ostbeitrag. War dem Minister bewusst, was er sagte? Würde die Regierung dies tatsächlich durchziehen, unter Inkaufnahme einer Eskalation?»
Gerhard Pfister, Präsident CVP
«Es ist klar, dass die Kohäsionsmilliarde innerhalb der CVP im Moment stark in Frage gestellt wird.»
Handelszeitung
«Für Leuthard droht das zweite Amtsjahr als Bundespräsidentin im Debakel zu enden. Sie muss sich vorwerfen lassen, dass sie Brüssel 1,3 Milliarden versprochen hat, ohne zuvor Garantien eingefordert zu haben. Der gewiefte Taktiker Juncker hat dies ausgenutzt – im Hockey würde man von einem klassischen Stockfehler sprechen. Nun legt Juncker der Schweiz Daumenschrauben an, indem er die Zukunft der Börse mit dem Rahmenabkommen verknüpft. Für den Bundesrat wird es damit ungemütlich: Zieht er den Kohäsionsbeitrag zurück, setzt er die Zukunft der Börse aufs Spiel. Gibt er den Milliardenbeitrag frei, macht er sich im Inland angreifbar. (…) Doch so gross die Versuchung ist, jetzt in Anti-EU-Rhetorik zu verfallen: Mit der Verteufelung der EU ist nichts gewonnen. Denn letztlich führt die Brüskierung durch Juncker nur vor Augen, wer am längeren Hebel sitzt: Und das ist die EU.»
Neue Zürcher Zeitung
«In der Schweiz gehen die Wogen hoch, die Emotionalität nimmt zu. Da gibt es eigentlich immer nur den einen guten Ratschlag: Puls senken, Lage beurteilen, miteinander reden. Derzeit passiert das Gegenteil.(…) Jean-Claude Juncker macht einen Fehler, wenn er in Bern Küsse verteilt und von einem Freundschaftsvertrag fabuliert, um dann umgehend zum Zweihänder zu greifen und von der offenbar nur vorgeschobenen Freundschaftspolitik auf eine unsympathische Machtpolitik umzuschwenken. In der Schweiz schafft er sich damit keine neuen Freunde, und dem Abschluss eines Rahmenabkommens ist damit nicht gedient.»
Petra Gössi, Präsidentin FDP
«Die Ostmilliarde wird es bei einer Diskriminierung der EU gegenüber der Schweiz schwer haben bei der FDP. Wir ziehen darum ein Aufschieben des Parlamentsgeschäfts in Betracht.»
Watson.ch
«Wird die Schweiz erpresst? Man kann das so sehen. Eigentlich aber handelt es sich um einen klaren Fall von Realpolitik. In der Schweiz hängen (zu) viele Akteure in Politik und Medien der Illusion nach, die Schweiz könne der EU den Tarif durchgeben. (…) Allein mit der Drohung, die Schweizer Börsenregulierung nur befristet anzuerkennen, hat die EU-Kommission die Machtverhältnisse offengelegt. Es ist die Schweiz, die einen privilegierten Zugang zum EU-Binnenmarkt wünscht, nicht umgekehrt.»
Schweiz fühlt sich diskriminiert
Die Schweizer Regierung reagiert auf den Entscheid der EU-Kommission, die Gleichwertigkeit der Börsenregulierung nur befristet anzuerkennen. «Wir betrachten die befristete Anerkennung als klare Diskriminierung der Schweiz», sagte Bundespräsidentin Doris Leuthard vor den Medien.
Die Schweiz erfülle die Bedingungen für die Anerkennung der Börsenäquivalenz genauso wie die anderen Drittstaaten, die eine unbefristete Anerkennung bekommen hätten.
Die Verbindung dieses technischen Dossiers mit den institutionellen Fragen sei sachfremd und inakzeptabel. «Aus Sicht des Bundesrats gibt es Zweifel an der Rechtmässigkeit dieses Entscheides», sagte Leuthard.
Der Bundesrat habe auch den Eindruck, dass der Entscheid der EU zum Ziel habe, den Finanzplatz Schweiz zu schwächen. Er wolle den Beschlüssen der EU Massnahmen entgegensetzen, welche die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz erhöhten.
Der Bundesrat beschloss laut Leuthard, den Börsen- und Finanzplatz zu stärken. Dabei steht die Abschaffung der Stempelabgabe im Vordergrund.
Die Stempelsteuer ist im Parlament seit langem ein Thema, zuletzt im Zusammenhang mit der Unternehmenssteuerreform III.
Bei der bereits versprochenen Kohäsionsmilliarde will die Regierung nun nochmals über die Bücher gehen.
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