Schweiz kann Hamas nicht so einfach auf die Terrorliste setzen
Die Schweizer Regierung hat ihre Bereitschaft bekundet, die palästinensische Hamas zu verbieten. Aber das ist gar nicht so einfach. Denn der Bann wird Folgen für die humanitäre Hilfe, die Friedensverhandlungen und den Schweizer Finanzsektor haben.
Am 11. Oktober hat die Schweizer Regierung nach den Angriffen auf israelische Zivilisten durch die islamistische Hamas aus dem Gazastreifen eine noch nie dagewesene Position bezogen.
«Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Hamas als terroristische Organisation eingestuft werden sollte. Er hat die Task Force Naher Osten beauftragt, die rechtlichen Optionen für ein Verbot der Organisation zu prüfen», heisst es in einer offiziellen Mitteilung der Schweizer Regierung.
Aktuell sind nur Gruppen, die mit al-Kaida und dem so genannten Islamischen Staat verbunden sind, nach Schweizer Recht als terroristische Gruppen eingestuft.
Parlament muss neues Gesetz machen
Obwohl die Hamas von den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich, Kanada und der Europäischen Union (EU) als terroristische Organisation eingestuft wurde, sind frühere Versuche von Schweizer Parlamentarier:innen zu einem solchen Verbot allesamt gescheitert.
«Nach geltendem Recht ist dies nur möglich, wenn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Hamas als terroristische Organisation bezeichnet, was er nicht getan hat. Daher muss die Schweiz ein spezielles Gesetz schaffen, das vom Parlament genehmigt werden muss», sagt Marco Sassòli, Professor für internationales Recht an der Universität Genf, gegenüber SWI swissinfo.ch.
Selbst dann sei es unwahrscheinlich, dass es sich um ein dauerhaftes Verbot handeln würde. Obwohl al-Kaida und IS von den Vereinten Nationen als terroristische Vereinigungen eingestuft wurden, konnte die Schweizer Regierung jeweils nur vorübergehende Verbote gegen sie verhängen. Diese müssen alle paar Jahre erneuert werden.
Humanitäre Bedenken
Ein weiteres Problem ist die praktische Umsetzung eines Verbots. Die Schweiz leistet jährlich einen Beitrag von rund 20 Millionen Franken an das reguläre Budget des UNO-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA).
2022 gingen weitere fünf Millionen Franken an rund 30 NGOs vor Ort in Palästina. Laut Sassòli ist eine Garantie nahezu unmöglich, dass alle diese Organisationen nichts mit der Hamas zu tun haben.
>>>Der Liveticker von SRF über die Entwicklung des Konflikts Israel-Hamas
«Wir alle verurteilen den Angriff der Hamas, aber sie regiert immer noch den Gazastreifen. Wenn Sie dort Lebensmittel oder Medikamente liefern oder Kindern helfen wollen, müssen Sie mit der Hamas sprechen. Man kann nicht mit dem Hubschrauber einfliegen», sagt Sassòli.
EU hat Weg vorgespurt
Die EU kann den Palästinenser:innen immer noch Hilfe zukommen lassen, obwohl sie die Hamas bereits 2003 auf ihre Liste der Terrorgruppen gesetzt hat. Der Entscheid wurde mehrfach erfolglos vor Gericht angefochten. Der jüngste Anschlag veranlasste jedoch eine dringende Überprüfung der EU-Hilfe für Palästina.
«Unsere humanitäre Unterstützung für das palästinensische Volk steht nicht in Frage. Dennoch ist es wichtig, dass wir unsere finanzielle Unterstützung für Palästina sorgfältig überprüfen. EU-Gelder sind nie an die Hamas oder andere terroristische Organisationen geflossen und werden es auch nie tun», sagte Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, am Mittwoch. «Daher werden wir nun das gesamte Portfolio im Licht der sich entwickelnden Situation vor Ort erneut überprüfen.»
Laut Marco Sassòli ist die Schweiz in einer besseren Position als die EU, um die Hamas auf ihre Terrorliste zu setzen und gleichzeitig weiterhin dringend benötigte Hilfe für die notleidende palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen zu leisten.
Auch Terrorunterstützung verboten
«Wenn die Schweiz ein spezielles Gesetz verabschiedet, das die Hamas als terroristische Organisation bezeichnet, sollte es eine Ausnahmeklausel für echte und neutrale humanitäre Dienste an der Bevölkerung enthalten. Es gibt bereits eine solche Ausnahmeregelung im Schweizer Strafgesetzbuch, die Aktivitäten verbietet, die als Unterstützung des Terrorismus gelten», sagt Sassòli.
Er bezieht sich auf Artikel 260 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs, der die Unterstützung einer «kriminellen oder terroristischen Organisation» unter Strafe stellt.
Der Artikel enthält eine Ausnahmeklausel, die besagt, dass die Strafe «nicht für humanitäre Dienste gilt, die von einer unparteiischen humanitären Organisation wie dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz in Übereinstimmung mit dem gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Konventionen vom 12. August 1949 geleistet werden».
Die kniffligere Frage ist die Weiterleitung von Geldern an Bedürftige in Palästina über das Schweizer Finanzsystem.
«Selbst wenn es eine Ausnahme für humanitäre Hilfe gibt, wird dies indirekt zu einem Einfrieren dieser Hilfe führen. Denn keine Bank wird Geld an einen Ort überweisen, der unter Kontrolle einer Gruppe steht, die auf einer Terrorliste figuriert», so Sassòli weiter.
Laut Robert Reinecke von der Schweizerischen Bankiervereinigung sind Reputation und Integrität wichtige Schlüsselfaktoren für den Schweizer Finanzplatz und dessen Image.
«Die Massnahmen zur Bekämpfung der Geldwäscherei wurden in den letzten Jahren kontinuierlich ausgebaut und verschärft. Die Banken unterliegen umfassenden Sorgfalts- und Meldepflichten zur Verhinderung von Geldwäscherei und Finanzkriminalität», sagt Reinecke.
Glaubwürdigkeit als Friedensstifterin in Gefahr
Die Erklärung der Hamas zu einer terroristischen Organisation könnte im Nahen Osten auch die Rolle der Schweiz beeinträchtigen, dort als glaubwürdige Vermittlerin oder Botschafterin aufzutreten. Die neutrale Schweiz vertritt derzeit die diplomatischen Interessen des Iran in Ägypten und Kanada, jene der USA im Iran und des Iran in Saudi-Arabien (und umgekehrt).
Die Beziehungen der Schweiz zu Israel und zur Hamas seien gut, schrieb die Schweizer Regierung 2021 in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage.
«Die inklusive Kontaktpolitik und die Politik der Guten Dienste der Schweiz in diesem Kontext wird von den internationalen Schlüsselakteuren wie den USA und der EU geschätzt, gerade während Krisen. Auch Israel wird regelmässig von der Schweiz über ihre Kontakte mit der Hamas informiert», heisst es weiter.
Die diplomatische Bedeutung der Schweiz in der Region würde also beeinträchtigt, wenn sie die Hamas auf die schwarze Liste setzen würde, glaubt Sassòli.
«Die Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten über die israelischen Geiseln, an denen auch die Türkei und Katar beteiligt sind, sind im Gang. Es wird für die Schweiz schwierig sein, in diesen Verhandlungen eine Rolle zu spielen, wenn die Hamas nach Schweizer Recht als terroristische Organisation eingestuft wird», sagt der Experte.
Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch