Rendite zu klein, Risiko zu gross
Immer mehr Pharmariesen, darunter auch Schweizer Unternehmen, ignorieren neue Infektionskrankheiten und konzentrieren ihr Geschäft stattdessen auf lukrative Bereiche wie die Krebsbehandlung. Ihre Strategie der Gewinnmaximierung schwächt den Kampf gegen Epidemien wie Covid-19. Mutige Kleinunternehmer und staatlich-private Kooperationen müssen einspringen.
In der Schweiz haben einige der weltweit führenden Pharma- und BiotechunternehmenExterner Link ihren Sitz. Doch sie meiden Engagements für die Eindämmung des Corona-Virus, mit dem bisher rund 100’000 Menschen in rund 80 Ländern infiziert wurden.
Auf der Liste der Kandidaten für Impfstoff- und Therapieangebote der WeltgesundheitsorganisationExterner Link (WHO) steht kein Schweizer Unternehmen. Und keiner der in der Schweiz ansässigen grossen Arzneimittelhersteller hat Pläne, das Virus zu erforschen oder die Entwicklung von Impfstoffen voranzutreiben.
Das mangelnde Interesse überrascht Bernard Pécoul nicht. Er ist Geschäftsführer von Drugs for Neglected Diseases Initiative (DnDi), einer gemeinnützigen Organisation mit Sitz in Genf, die nach Heilmitteln für vernachlässigte Krankheiten sucht.
«Viele grosse Pharmaunternehmen haben die Infektionskrankheiten komplett aufgegeben. Dies ist aktuell in Bezug auf Covid-19 ein grosses Problem, da kein Ende der Krankheit absehbar ist», sagt Pécoul gegenüber swissinfo.ch.
Seit der Gründung im Jahr 2003 bemüht sich DnDiExterner Link um Investitionen zur Bekämpfung von Krankheiten, welche für die Pharma kaum Priorität haben. Die Organisation entwickelt Therapien und erprobt neue Finanzierungsmodelle, um all jenen die nötigen Heilmittel zukommen zu lassen, die von der Branche vergessen werden. Jüngst hat sie ein Programm gegen die Schlafkrankheit, die Millionen von Menschen in Afrika bedroht, auf die Beine gestellt.
Doch ihre Mittel sind winzig im Vergleich zu den Milliarden, welche Pharmaunternehmen zur Verfügung haben. Und diese Milliarden werden vornehmlich in die Krebsforschung und die Untersuchung von seltenen Gendefekten gesteckt. Investitionen in Infektionskrankheiten mit Ausnahme von HIV, Malaria und Tuberkulose sind rar geworden.
Im jüngsten Access to Medicine IndexExterner Link, einem Ranking-System, das Pharmaunternehmen etwa in Bezug auf Medikamentenversorgung unter die Lupe nimmt, steht, dass fast die Hälfte der Forschungs- und Entwicklungsprojekte der 20 grössten Pharmaunternehmen auf Krebs abzielen, während zum Zeitpunkt der Veröffentlichung keine Projekte zu Corona-Viren (MERS-Cov und SARS-Cov) durchgeführt wurden.
Novartis verkaufte 2014 seine ImpfstoffsparteExterner Link an das britische Pharmaunternehmen GSK, nachdem sie jahrelang Verluste schrieb. Das Unternehmen verfügt nun nicht mehr über die nötigen Fachkenntnisse in der Virologie, und keines ihrer Labore arbeitet an Virostatika oder Diagnostika. Durch die Konsolidierung des Impfstoffgeschäfts kontrollieren nun vier grosse Firmen rund 80 Prozent des Marktes, der 43 Milliarden US-Dollar schwer ist.
«Die Unternehmen konzentrieren sich auf die Märkte, die am meisten Gewinn einbringen», sagt Pécoul. «Die Onkologie ist sehr profitabel, ebenso Therapien für sehr seltene Krankheiten.»
Sinkende Investitionen
Policy Cures ResearchExterner Link verfolgt die Trends in der Pharma weltweit. Der australische Thinktank mit Sitz in Sidney fokussiert dabei vor allem auf neu auftretende Infektionskrankheiten.
Vorläufige Ergebnisse seines Berichts, der in diesem Jahr veröffentlicht wird, zeigen, dass die Finanzierung von Projekten mit Bezug zu den Corona-Erreger (mit Schwerpunkt Mers, aber einschliesslich Sars) im Jahr 2016 rund 27 Millionen US-Dollar betrug, im Folgejahr auf 50 Millionen anstieg und 2018 erheblich zurückging, auf 36 Millionen US-Dollar. Dieser Wert liegt weit unter dem Finanzierungsniveau von Ebola und Zika.
«In diesem Zeitraum wurden kaum privatwirtschaftliche Mittel im Kampf gegen das Corona-Virus aufgewendet», sagt Paul Barnsley, Senior Analyst bei Policy Cures. Er erklärt, dass solche Investitionen stark davon abhängen würden, ob es zu Seuchen komme und ob klinische Studien durchgeführt werden könnten.
«Dass wenig in Bezug auf Corona-Viren gemacht wird, erklärt sich wahrscheinlich zum Teil durch das Fehlen von Möglichkeiten für klinische Tests während des von unseren Daten abgedeckten Zeitraums», sagt Barnsley.
Unterschiedliche Prioritäten
Ellen ‹t Hoen, Direktorin der Beratungs- und Analysefirma Medicines Law & PolicyExterner Link sagt, dass «Pharmaunternehmen ihre Prioritäten nicht immer den globalen Gesundheitsprioritäten angleichen». Die studierte Anwältin, die für Ärzte ohne Grenzen und die WHO gearbeitet hat, erklärt, dass Aktionäre an grosse Gewinne gewöhnt seien und diese Gewinne nicht durch Engagements in diesen Bereichen zu holen seien.
Für viele Unternehmen ist diese Darstellung zu einseitig. Sie argumentieren, dass ihre Investitionen durchaus auf internationale Problembereiche abzielten. Sie verweisen auf KrebsExterner Link, die weltweit zweithäufigste Todesursache, oder auf chronische Krankheiten wie DiabetesExterner Link. Die Zuckerkrankheit betrifft immer mehr Menschen weltweit.
Harald Nusser, Leiter von Novartis Social Business, erklärte im Januar am Rande des World Economic Forum, dass die Unternehmen aufgrund ihrer Erfahrung und Ressourcen Prioritäten setzen müssten: Bei welchen Krankheiten kann der sinnvollste Beitrag geleistet werden? Bei Novartis seien das TropenkrankheitenExterner Link wie Malaria, Lepra und Leishmaniose. «Klar, das sind manchmal nicht die grössten aktuellen Bedrohungen für die öffentliche Gesundheit, aber noch immer sterben viele Menschen daran», sagte er.
Das Problem mit Epidemien
Epidemien stellen die Pharmariesen vor eine spezielle Herausforderung. Das Interesse ist gross, wenn ein Ausbruch geschieht, aber wenn die Ansteckungswelle überstanden ist, flaut das Interesse ab, und damit auch die Investitionen. Dies bedeutet, dass oft «vielversprechende medizinische Technologien auf der Strecke bleiben, weil niemand mehr bereit ist, dafür Geld auszugeben», sagt ‹t Hoen.
Dies bestätigte Anfang 2020 der Novartis-CEO Vasant Narasimhan in einem Interview gegenüber CNBCExterner Link: «Wenn eine Seuche ausbricht, wollen alle etwas tun, aber wenn sie vorbei ist, interessiert sich kaum mehr jemand dafür. Die Frage ist, wie man die Investitionen in diesen Zeitspannen aufrechterhalten kann.»
In diesem Zusammenhang wird häufig auf die Erfahrung des Pharmariesen GSKExterner Link im Zuge der Ebola-Epidemie verwiesen. Nachdem jahrelang in drei Impfstoffe investiert worden war, kamen die Bemühungen von GSK während der letzten Phase der klinischen Studien im Jahr 2016 zum Stillstand. Der Grund: Die Ebola-Fälle gingen stark zurück. Ohne wirkliche Aussicht auf finanzielle Rendite gab der Pharmariese schliesslich auf und liess letztes Jahr ein gemeinnütziges Institut in den USA die Arbeit fortführen. Zur selben Zeit brach andernorts in Afrika, in der Demokratischen Republik Kongo, die Ebola-Seuche erneut aus.
«Während der Sars-Epidemie geschah dasselbe», sagte Thomas Cueni, Generaldirektor bei der International Federation of Pharmaceutical Manufacturers Associations (IFPMA), gegenüber dem Westschweizer Fernsehen RTSExterner Link. «Vor 17 Jahren begannen Unternehmen mit der Entwicklung von Impfstoffen. Aber als die Zeit für klinische Tests reif war, gab es keine Patienten mehr, weil das Virus zwischenzeitlich verschwunden war.»
Diese Erfahrungen haben PharmariesenExterner Link wahrscheinlich vorsichtiger werden lassen. Und diese Vorsicht wirkt sich nun auf die Suche nach Covid-19-Therapien aus. Infolge dessen beschränken sich viele UnternehmenExterner Link darauf, die Gesundheitsbehörden zu beraten und ihre bereits entwickelten Medikamente auf ihre Wirksamkeit gegen das Virus zu prüfen.
Novartis, Johnson & Johnson und Sanofi haben bereits mitgeteilt, dass sie vorhandene Produkte untersuchen um festzustellen, ob sie im Kampf gegen Covis-19 eingesetzt werden könnten. Zum Beispiel ist das Arthritis-Medikament Actemra von Roche Teil des staatlichen Diagnose- und Behandlungsplans in China. Ausserdem spannt Roche mit einem deutschen Unternehmen zusammen, um die Diagnostik zu beschleunigen. Ein Unternehmenssprecher sagte gegenüber swissinfo.ch, dass es so viele Testeinheiten wie möglich zur Verfügung stellen wolle.
Für grosse Unternehmen wie Roche wäre die Jagd nach einem Impfstoff eine kurzfristig zu grosse finanzielle Verpflichtung mit zu kleinen Aussichten auf Gewinn. Zudem birgt die Dringlichkeit auch andere Risiken, einschliesslich rechtlicher Verpflichtungen.
Viele AnlegerExterner Link setzen deshalb auf kleinere Unternehmen, die eher bereit sind, Risiken einzugehen. Als das wenig bekannte Unternehmen Vaxart ankündigte, nach einem möglichen Covid-19-Impfstoff zu suchen, stieg der Wert seiner Aktie um 106,1%. Die Aktienkurse stiegen auch für andere Biotechunternehmen wie Novovax und Inovio, nachdem diese Pläne für Tests und Versuche angekündigt hatten.
Laut der WHO wird die Herstellung eines Impfstoffs gegen Covid-19 rund 18 Monate beanspruchen, was kürzer ist als bei anderen Impfstoffen.
Ein defektes Modell reparieren
Für Ellen ‹t Hoen, die seit 35 Jahren globale Gesundheitsprobleme anpackt, sind das alles verpasste Chancen. «Es werden leider keine Lehren aus der Vergangenheit gezogen. Das Corona-Virus wird die Liste der globalen Gesundheitsprobleme, denen die Pharmabranche den Rücken kehrt, weiter verlängern. Es scheint, als könnten nur zusätzliche Anreize helfen», schrieb sie kürzlich in einem Kommentar im Wirtschaftsnewsportal BarronsExterner Link.
Sie ist überzeugt, dass letztlich öffentlich-private Partnerschaften, also eine Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und staatlichen Stellen sowie Stiftungen, in die Bresche springen werden. Doch auch dort gibt es Hürden, vor allem in Bezug auf Preise und Rechte.
So hat sich jüngst die Coalition for Epidemic Preparedness InnovationsExterner Link (CEPI), die grösstenteils von Regierungen und Wohltätigkeitsorganisationen finanziert wird, um solche Kooperationen bemüht. Doch die Organisation hatte grosse Mühe, PharmaunternehmenExterner Link als Partner zu gewinnen, da diese auf grosse Gewinne pochten und exklusive Eigentumsrechte einforderten.
Für Bernard Pécoul muss ein Umdenken stattfinden. Er würde es «hassen», so betont er, wenn die Pharmariesen im Kampf gegen Covid-19 bloss Medikamente spenden und etwas Geld zur Verfügung stellen würden. «Wir brauchen ein echtes Engagement und nicht bloss ein wenig Wohltätigkeit.»
(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)
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