Wo die Schweiz ihre Schriftsteller her hat
"Noch nie war das, was in der Schweiz von jungen Autoren – und vor allem Autorinnen! – geschrieben wurde, von so hoher Qualität." Das war das Fazit von Schriftsteller Peter Bichsel an den Solothurner Literaturtagen. Ein Grund dafür ist vielleicht eine neue Ausbildungsstätte, das Schweizerische Literaturinstitut in Biel. Ein Werkstattbesuch.
Der Aschenbecher vor der Bieler Villa, in der das Schweizerische Literaturinstitut Externer Linksitzt, ist noch leer. Drinnen begrüsst Dozentin und Autorin Regina Dürig Externer Linkdie deutschsprachigen Studierenden im ersten Jahr zum wöchentlichen Schreibatelier. «Morgen!» ruft der letzte beim Reinkommen. Dürig fragt nach: «Was ist denn mit den anderen? Habt ihr Nachricht?» Es ist die intime Situation und das konsequente Duzen, die das Literaturinstitut in diesem Moment mehr wie eine Grund- als eine Fachhochschule wirken lassen.
Neuerung im französischen Sprachraum
Das Literaturinstitut bietet den schweizweit einzigen Studiengang an einer staatlichen Fachhochschule in «Literarischem Schreiben». Das Institut ist – genau wie die Stadt BielExterner Link – zweisprachig: Literatur entsteht hier auf Deutsch und Französisch. Während in den USA hunderte Colleges «Kreatives Schreiben» anbieten und auch in Grossbritannien alleine auf Bachelostufe 162 verschiedene Studiengänge existieren, ist das Konzept einer akademischen Schreibausbildung im deutschen Sprachraum weniger verbreitet.
Unter zehn solcher Studiengänge gibt es in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Komplett unbekannt war eine praktisch-kreative Schreibausbildung im frankophonen Raum. Als das Literaturinstitut Biel vor mehr als zehn Jahren seinen Betrieb aufnahm, bot es die erste derartige (französische) Ausbildung auf dem europäischen Kontinent. Nur in Quebec kannte man solche Studiengänge bereits davor.
Konzentriert, aber ohne Stress
Im Schreibatelier. Der Auftrag der Studierenden lautet: in fünf Minuten eine Geschichte schreiben, die mit dem Satz beginnt: «Das ist die Geschichte, die ich nie erzählen wollte, als ich deine Freundin war». Ein erster Satz der Autorin und Filmemacherin Miranda JulyExterner Link, aber das wissen die Studierenden noch nicht. Sie schreiben hoch konzentriert, aber ohne Stress. Dozentin Dürig touchiert mit einem Stift eine Klangschale. Das Zeichen dafür, dass die fünf Minuten bald vorbei sind.
Dann lesen alle reihum vor. Manche Texte verlaufen sich in literaturtheoretischen Bezügen; manche erzählen in bester Beat-Tradition von den leeren Weinflaschen in der Küche. Dabei wird nebenbei auch die Presse beleidigt: Weshalb ist sie hier und berichtet nicht über die Zustände in den Gefängnissen von Kolumbien? Die Texte werden von den anderen mit Schmunzeln oder anerkennenden Floskeln quittiert. Die Übung dient der Schreibpraxis; Kritik und Analyse stehen nicht im Vordergrund. Ob an diesen Texten weitergearbeitet wird, bleibt das Geheimnis von jeder und jedem einzelnen.
Studierende unterschiedlichster Herkunft
Umso grösser dann die Kritik nach der Lektüre jener Kurzgeschichte von Miranda July, die mit diesem Satz einsteigt. Besonders das Ende ist umstritten: «Wenn ich die Lektorin gewesen wäre, hätte ich ihr geraten das wegzulassen.»
Die Studierenden wirken so verschieden, wie ihre Schreibmaterialien: Schreibblöcke, Notizbücher – die Laptops sind alle mit Sticker individualisiert. Drei der Studierenden sind hier in ihrer Erstausbildung, andere Biografien sind bereits gefüllter: Auch ein Umweltingenieur lässt sich noch zum Schriftsteller ausbilden. Nicht alle kommen aus bildungsnahen Haushalten: Bei einigen hat kein Elternteil studiert.
Entscheid gegen ein gesichertes Einkommen
Letzteres ist deshalb interessant, weil die Entscheidung in der Schweiz auf Literatur zu setzen, eine Entscheidung gegen ein gesichertes Einkommen ist. Bei staatlichen Schauspielausbildungen, die immerhin auf Berufe im festen Arbeitsverhältnis vorbereiten, schwankt die Anzahl der Studienbewerber mit der wirtschaftlichen Konjunktur. In Biel bewerben sich laut Institutsleiterin Marie Caffari pro Jahrgang konstant etwa 100 um einen Studienplatz.
15 von ihnen werden aufgenommen. Als das Literaturinstitut 2006 den Betrieb aufnahm, stammten nur zwei der Aufgenommenen aus dem Welschland. Seither haben die Bewerbungen aus der Romandie, Frankreich und Belgien zugenommen und auch der Anteil frankophoner Studierender liegt mittlerweile bei 30 Prozent. Das freut Caffari, aber gleichzeitig betont sie, dass ein Fokus auf Französisch und Deutsch der Realität nicht mehr gerecht werde: «Wir leben in einer mehrsprachigen Gesellschaft. Manche Studierende orientieren sich an der angelsächsischen Literatur und das beeinflusst ihr Schreiben, andere haben eine Muttersprache, die weder Deutsch noch Französisch ist.» Zweisprachigkeit sei zu klein gedacht.
«Sie sind ausgebildet für die besondere Situation eines Berufs ohne Stelle.»
In der Pause füllt sich auch der Aschenbecher vor der Bieler Villa. Die Studierenden sagen, sie wünschen sich eher noch mehr Austausch mit ihren frankophonen Pendants und diskutieren darüber, ob sie nach dem ersten Studienjahr bei denselben Mentoren bleiben wollen. Ein Grossteil des Studiums findet nicht gemäss Stundenplan, in Schreibateliers oder Seminaren, statt. Eigene Projekte, Performances, Lesungen und Publikationen machen einen grossen Anteil aus. Und eben die Mentorate: Alle Studierenden werden während allen drei Ausbildungsjahren von Mentoren betreut. Bei Studienbeginn wählen die Mentoren ihre Mentees. Am Ende des ersten Jahres sind die Studierenden dazu eingeladen, ihre Mentoren zu wechseln, Inputs und Perspektiven von jemand anderem zu erhalten.
Nicht alles schreiben später Romane
110 Personen haben bisher einen Bachelor of Fine Arts in «Literarischem Schreiben» erlangt. Darunter etwa Arno CamenischExterner Link, Michelle Steinbeck Externer Linkund Dorothee ElmigerExterner Link, die sich erfolgreich als Romanautoren etabliert haben. Aber nicht alle Abgänger schreiben Romane und bei weitem nicht alle Romanautoren können vom Schreiben leben. Wie steht es um den Broterwerb der Autoren mit Hochschulabschluss?
Caffari vergleicht die Situation der Absolventen mit jenen einer Jazzhochschule: «Nachdem die eigene Praxis entwickelt ist, sind sie fähig sich im literarischen Feld zu etablieren.» Sie kennen ihre literarischen Interessen und verfügen über ein entsprechendes Netzwerk. Caffari nennt es «die besondere Situation eines Berufs ohne Stelle».
Schriftsteller für den Privatgebrauch
Manche leben heute vom Schreiben – von Lesungen und Buchverkäufen, andere haben sich als Performer etabliert oder machen Spoken Word begleitet von Musikern. Einige Absolventen haben dabei auch ihre eigenen Berufe geschaffen, etwa Julia WeberExterner Link mit dem Literaturdienst. Weber kann man buchen, dann richtet sie sich mit ihrer Schreibmaschine ein und verarbeitet das Geschehen in Auftragsliteratur – egal, ob es ein Privatgeburtstag oder ein Tanzfestival ist.
Webers erste Texte dieser Art seien in einem Schreibatelier entstanden. «Am Anfang wollte ich mich möglichst ums Vorlesen drücken. Nach und nach habe ich gemerkt, dass mir das spontane Schreiben liegt», so Weber. Sie habe erkannt, dass sie in kurzer Zeit etwas schreiben könne, das anderen etwas gibt. Vielleicht entdecken also auch die jetzigen Studierenden ihren schreibenden Schwerpunkt genau in jenen Buchstaben, die sie notieren, bevor sie Regina Dürigs Klangschale hören.
Es muss ja nicht der einzige Schwerpunkt sein: Anfang 2017 ist Julia Webers Roman «Immer ist alles schön» erschienen und seither international ausgezeichnet worden. Gäbe es das Buch ohne ihr Studium am Schweizerischen Literaturinstitut? Webers eigene Meinung: «Ja, aber es würde wohl anders heissen und nicht das gleiche Buch sein.»
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