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Schweizer Uhrenindustrie steht im Gegenwind

Das Uhrenatelier von Gilbert Petit-Jean in les Brenets bekommt die Krise mit aller Wucht zu spüren: Er musste 60 seiner Leute entlassen. swisscastles.ch

Nach Jahren verrückten Wachstums sieht sich die Schweizer Uhrenindustrie mit einer Verlangsamung konfrontiert, wie noch nie seit der Krise von 2009. Seit einigen Wochen häufen sich Meldungen über Entlassungen bei Firmen im Jurabogen, der Wiege der Schweizer Uhrenindustrie. Und für 2016 zeichnet sich keine rasche Erholung ab.

Nach Aussen strahlen die Juratäler eine Gelassenheit aus, durchflutet von der für die Saison unüblich intensiven Sonne. Vor den imposanten Manufakturen, den Symbolen eines zuvor nie gesehenen Booms, die im vergangen Jahrzehnt am Rande der wichtigsten Uhrenmetropolen aus dem Boden schossen, scheinen die zum Bersten vollen Parkplätze von anhaltender Aktivität zu zeugen.  

Entlassungen und Standortschliessungen

Neuenburg ist der am stärksten von der Uhrenindustrie geprägte Kanton, in dem sich auch zahlreiche Zuliefer-Betriebe befinden. Neuenburg ist damit auch von den Schwierigkeiten, welche die Branche seit einigen Monaten erlebt, am stärksten betroffen. Im Mai hatte Ulysse Nardin unter Verweis auf die russisch-ukrainische Krise die Entlassung von 26 seiner 320 Mitarbeitenden in La Chaux-de-Fonds und in Le Locle bekannt gegeben. In der Folge schloss Bulgari einen seiner beiden Standorte in Chaux-de-Fonds, wo 20 Angestellte gearbeitet hatten.

Im Juli entliess die Manufaktur Christophe Claret in Le Locle 20 Angestellte. Im Oktober enthielten 17 von 100 Mitarbeitenden am Parmigiani-Standort Fleurier die Kündigung. Das Uhrenatelier Gilbert Petit-Jean gab jüngst bekannt, dass über ein Drittel der 207 Angestellten entlassen werde. Danach gaben die Firmen Prototect und La Joux-Perret in La Chaux-de-Fonds insgesamt rund 15 Entlassungen bekannt.

Die Gewerkschaften rechnen bis Ende Jahr mit weiteren solchen Ankündigungen. Die oben angeführte Liste der Entlassungen ist nicht umfassend, und auch andere Uhrmacher-Regionen der Schweiz blieben von der Entwicklung nicht verschont, waren aber bisher in geringerem Ausmass betroffen.

Im Innern der Fabriken herrscht jedoch keine Festlaune mehr. Seit einigen Monaten hat sich eine trübe Stimmung eingenistet, Anzeichen einer Krise, die noch nicht wirklich als solche bezeichnet wird. «Die meisten Uhrenmarken, die zu grossen Konzernen gehören, konnten Entlassungen oder den Griff zur KurzarbeitExterner Link bisher vermeiden – dank den Kriegskassen, die sie in den vergangenen Jahren äufnen konnten. Die Produktion in den Werkstätten läuft jedoch auf deutlich niedrigeren Touren», bekräftigt ein Kenner der Branche, der in einem Mikrokosmos, in dem Diskretion zu den Grundwerten gehört, seine Anonymität bewahren möchte.

Ganz anders sieht es bei den unabhängigen Marken und Lieferanten aus. Sie spüren die Folgen einer Konjunkturabkühlung als Erste und können ihre Schwierigkeiten nicht mehr verstecken: Seit dem Sommer häufen sich die Meldungen über Entlassungen und Kurzarbeit. Dazu kommt das «Abspecken» durch den Verzicht auf temporäre Arbeitskräfte, die mit den offiziellen Statistiken nicht erfasst werden.

Geschlossene Türe, abwesender Patron

In Les Brenets im Kanton Neuenburg, das nur einige Hundert Meter vom Doubs, dem Grenzfluss zu Frankreich, entfernt liegt, gab Philippe Petit-Jean, Chef des gleichnamigen Uhrenateliers, jüngst die Entlassung von 60 seiner 207 Angestellten bekannt.

Nachdem er am Telefon zuerst gezögert hatte, stimmte der Patron schliesslich einem Treffen mit swissinfo.ch am nächsten Tag in der Fabrik zu, um über die Schwierigkeiten zu sprechen, mit denen sein auf die Montage mechanischer Uhrenwerke spezialisiertes Familienunternehmen sich konfrontiert sieht. Letztlich liess er uns aber im Stich. «Er wird Sie leider nicht treffen können, er musste diesen Nachmittag weg», erklärt eine Angestellte lakonisch, nachdem sie uns lange vor der Eingangstüre hatte warten lassen.

«Philippe Petit-Jean ist ein ehrlicher Chef, der seine Angestellten schätzt. Wenn er zu einem solch drastischen Einschnitt beim Personalbestand greifen musste, heisst das, dass er wirklich keine Wahl hatte, dass die Erholung für 2016 derart fraglich zu sein scheint», erklärt Francisco Pires, bei der Gewerkschaft UNIA in La Chaux-de-Fonds für die Uhrenbranche zuständig.

Übervolle Lagerbestände

Francisco Pires ruft in Erinnerung, dass der Abschwung nicht wirklich neu sei. «Die Bestellungen sind schon seit fast einem Jahr rückläufig, und in den letzten Monaten beschleunigte sich dieser negative Trend noch», erklärt der Gewerkschaftssekretär.

Tatsächlich sind die Uhrenexporte im September gegenüber September 2014 um 7,9% gesunken. So etwas hatte es seit der Krise von 2009 nie mehr gegeben. Zudem sagen diese Zahlen allein nichts aus über eine noch besorgniserregendere Realität: Viele Marken hätten Lagerbestände für mehr als ein Jahr, manchmal gar zwei Jahre, erklären verschiedene Branchenkenner.

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Um die aktuellen Schwierigkeiten zu erklären, wird eine ganze Serie von Gründen angeführt: Der Ukraine-Konflikt, der Absturz des Rubels, die explosive Lage im Nahen Osten, die Kampagne gegen Korruption und der Wachstumsrückgang in China, die neuen Smartwatches, aber auch die starke Aufwertung des Schweizer Frankens seit Anfang Jahr. «Aufgrund der [von der Schweizerischen Nationalbank beschlossenen] Aufhebung des Mindestkurses am 15. Januar haben wir in einem Tag eine Milliarde Franken Umsatz verloren», hatte etwa Nick Hayek, der Chef der Swatch Group, Anfang November gegenüber der NZZ am Sonntag erklärt.

«Aufgrund der Aufhebung des Mindestkurses am 15. Januar haben wir in einem Tag eine Milliarde Franken Umsatz verloren» Nick Hayek, Chef der Swatch Group

Gewisse Beobachter finden jedoch, die Schweizer Uhrenmacher könnten nicht nur auf externe Schocks verweisen, sondern müssten auch ihren Teil der Verantwortung tragen. «Die Schweizer Uhrenindustrie hatte in all diesen Jahren des ungebremsten Wachstums, das nichts mit ihren Verdiensten zu tun hatte, sondern auf eine unvorhergesehene und mechanische Vergrösserung des Anteils am Kuchen zurückging, leichte Profite eingesackt und die Gewinne dann in halluzinierende Marketing-Budgets, in üppige Produktionsstätten oder törichte Investitionen für utopische Vertikalisationen gesteckt», schreibt zum Beispiel Grégory Pons, Herausgeber der Onlinepublikation business montre & joaillerieExterner Link.

Überkapazität

«Man kann den Unternehmen nicht vorwerfen, dass sie in den vergangenen Jahren grosse Investitionen getätigt haben», erwidert Romain Galeuchet, Kommunikationsverantwortlicher beim Arbeitgeberverband der Schweizerischen UhrenindustrieExterner Link (CP). «Viele Marken haben nach dem Entscheid der Swatch Group, ihre Konkurrenten nicht mehr länger mit Bestandteilen für mechanische Uhrwerke zu beliefern, ihren Produktionsapparat angepasst. Aber vielleicht haben gewissen Uhrenmacher die Dinge zu gross gesehen, vielleicht war die Anpassung der Produktionskapazitäten zu rasch erfolgt.»

Galeuchet weigert sich zudem, von einer ausgewachsenen Krise zu sprechen, sondern zieht es vor, zum Bild eines Hobels zu greifen, der «ernsthaft» angesetzt worden sei. Mit Hilfe von Zahlen unterstreicht er die Ausnahmesituation, welche die Branche in den vergangenen Jahren erlebt habe. Die Uhrenbranche zählt heute gegen 60’000 Angestellte, 10’000 mehr als vor 4 Jahren. Man muss bis in die Mitte der 1970er-Jahre zurückgehen, das heisst in die Zeit vor der Krise mit den Quarzuhren aus Asien, um beim Personalbestand vergleichbare Zahlen zu finden.

Für dieses Jahr rechnet der Arbeitgeberverband bei der Beschäftigung in der Branche im besten Fall mit einer Stagnation, im schlimmsten Fall mit einem leichten Rückgang, der 5% nicht übersteigen sollte. «2009, nach der globalen Finanzkrise, hatte die Uhrenindustrie 4000 Arbeitsplätze verloren, das waren 8 bis 9% des Personalbestands», sagt Galeuchet.

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In erster Linie französische Grenzgänger

In seinem Büro in Le Locle, einer Stadt, die für ihre aussergewöhnliche Symbiose von Urbanistik und Uhrenindustrie in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen wurde, teilt Stadtpräsident Denis de la Reussille (Mitglied der links der SP stehenden Partei der Arbeit, PDA) die Sorgen der Akteure der Uhrenbranche. Er verbietet sich aber selbst, den Teufel an die Wand zu malen. 

«Wir haben schon schlimmere Krisen erlebt», sagt Denis de la Reussille, der Maire von Le Locle, eine der bedeutendsten Uhrenstädte im Jurabogen. swissinfo.ch

«Es wird einen leichten Rückgang bei den Steuereinnahmen geben, und damit Konsequenzen für die öffentlichen Finanzen der Stadt. Aber es ist nicht die schlimmste Krise, die wir erlebt haben. Die Lage ist von einem zum anderen Unternehmen sehr unterschiedlich: Gewisse Zulieferer oder Firmen, die in Nischenmärkten aktiv sind, leiden stark, während die grossen Marken in der Region sich gut behaupten können», erklärt de la Reussille.

Der Stadtpräsident von Le Locle verweist vor allem auf Tissot, eine der Topmarken der Swatch Group, die weiterhin strahlend gesund da stehe. In der Stadt im Neuenburger Jura mit ihren 10’500 Einwohnern und Einwohnerinnen gebe es heute eine Rekordzahl von insgesamt 8000 Arbeitsplätzen, ein Grossteil davon in der Uhrenindustrie, unterstreicht de la Reussille. Arbeitsstellen, die zu fast 40% von Grenzgängern belegt werden.

Im Uhrenatelier Gilbert Petit-Jean in der Nachbargemeinde Les Brenets, kommen gar 4 von 5 Angestellten jeden Tag aus Frankreich über die Grenze zur Arbeit in der Schweiz. «In den kommenden Monaten dürften wir vor allem in den grenznahen französischen Regionen einen bedeutenden Anstieg der Arbeitslosenquote sehen», sagt UNIA- Gewerkschafter Francisco Pires denn auch voraus.

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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