Sozialarbeit in Taiwan auf Chinesisch
Der Zürcher Sozialarbeiter Georg L’Homme setzt sich in Taiwan für Fremdarbeiter aus Südostasien ein. Er hilft seinen taiwanischen Kollegen im Umgang mit den Migranten, organisiert Weiterbildungskurse und geht für bessere Arbeitsbedingungen auf die Strasse.
Sie sitzen um einen Tisch im Büro des Migrantenzentrums Hsinchu, eineinhalb Stunden Autofahrt entfernt von der Hauptstadt Taipeh: Georg L’Homme, zwei Ordensschwestern, ein Priester und zwei weitere Berater des Zentrums. An der Teamsitzung besprechen die fünf die Teilnahme an Kundgebungen; wer geht alles hin, wie viele Arbeiter werden mitkommen, lohnt es sich einen, eigenen Bus zu organisieren?
Georg L’Homme geht wenn immer möglich auch selbst auf die Strasse, um für bessere Arbeitsbedingungen zu demonstrieren. Das letzte Mal hielt er ein Verbotsschild hoch, auf dem das chinesische Zeichen für Sklaverei durchgestrichen war. Es hängt jetzt im Eingangsflur des Büros.
Seit über vier Jahren arbeitet der 37-jährige Zürcher im Migrantenzentrum der Diözese Hsinchu. Seine Stelle hat er über die Bethlehem Mission Immensee (BMI) erhalten, die neben Taiwan auch noch in weiteren Ländern Entwicklungszusammenarbeit betreibt. Beraten werden die Arbeitsmigranten jedoch unabhängig von ihrer Konfession. So leben derzeit mehrere Dutzend Indonesier in den Notunterkünften des Zentrums, die mehrheitlich Muslime sind.
Dort isst Georg L’Homme heute zu Mittag. «Diejenigen, die heute hier sind, sind fast alles Opfer von Menschenhandel», sagt er. Die Migranten bleiben in der Notunterkunft, während ihr Fall von den Behörden bearbeitet wird. In der Küche riecht es nach exotischen Gewürzen; es gibt Fisch, Auberginen und Reis. «Gekocht haben heute die Indonesier», warnt Georg L’Homme den Besucher, «dann wird es ziemlich scharf sein».
300 Franken im Monat
Der 26-jährige Anton* sitzt zusammen mit zwei Arbeitskollegen – ebenfalls aus Indonesien – am selben Tisch. Bis vor zwei Jahren arbeiteten sie in einer Recycling-Fabrik, wo sie Metalle, Papier und Glas sortierten. Fast jeden Tag mussten sie Überstunden machen, bezahlt wurden diese nicht. Abwechselnd mussten sie nach Arbeitsschluss zusätzlich die Fabrik bewachen – ebenfalls unbezahlt.
«Wir sind nach Taiwan gekommen, um Geld zu verdienen», sagt Anton, denn zuhause gebe es kaum Hoffnung auf einen guten Job. Die Versprechen der Vermittlungsagentur, dass sie in Taiwan viel verdienen würden, hätten sie nicht hinterfragt. Damit sie überhaupt nach Taiwan kommen konnten, mussten sie sich erst verschulden. Die Agentur verlangte von jedem umgerechnet 5000 Franken.
Vom versprochenen Lohn zog der taiwanische Arbeitgeber weitere Gebühren ab, übrig blieben rund 300 Franken im Monat. Das geliehene Geld für die Vermittlungsgebühr könne er so natürlich nicht abzahlen, sagt Anton, geschweige denn Geld verdienen.
Derzeit leben über 400’000 Arbeitsmigranten in Taiwan, das flächenmässig knapp so gross ist wie die Schweiz, aber rund drei Mal so viele Einwohner zählt.
Sie kommen vor allem aus den südostasiatischen Ländern Indonesien, den Philippinen, Thailand und Vietnam.
Die Männer sind auf Baustellen, in Fabriken und in der Fischerei beschäftigt, während die Frauen hauptsächlich in der privaten Alten- und Krankenpflege tätig sind.
Die Arbeiter werden fast ausschliesslich von Agenturen nach Taiwan vermittelt. Die verlangten Gebühren müssen die Arbeiter bereits im Herkunftsland bezahlen. Die kann bis zu 7000 Franken betragen.
Familien ins Herkunftsland «ausgelagert»
Solange ihr Fall bei den taiwanischen Behörden liegt, dürfen sie in der Notunterkunft bleiben und nebenbei in einer Glasfabrik arbeiten. «Dort verdienen wir doppelt so viel», sagt Anton, ausserdem gebe es bezahlte Überstunden und einen Nachtzuschlag.
Die drei sind sich einig, zurück nach Indonesien möchten sie noch nicht, sie sind auf die Arbeit hier angewiesen. Auch der 28-jährige Ono* will nicht zurück, obwohl seine Frau und der achtjährige Sohn zuhause auf ihn warten. Zwar telefonieren sie regelmässig miteinander, gesehen hat er die beiden das letzte Mal vor über zwei Jahren.
«Die Arbeitsmigranten unterscheiden sich von den einstigen Saisoniers in der Schweiz», so L’Homme. Die Fremdarbeiter aus Südostasien kommen für drei Jahre am Stück nach Taiwan, bevor sie wieder in ihr Land zurückkehren. Dort dürfen sie sich dann erneut für einen Arbeitsaufenthalt in Taiwan bewerben.
Auf diese Weise bleiben die Angehörigen der Arbeiter in deren Heimatland. «Die Familien der Fremdarbeiter lagert Taiwan einfach aus», sagt L’Homme. Dass die Kinder ohne Vater oder Mutter aufwachsen, sei somit nicht das Problem von Taiwan, sondern von ihrem Herkunftsland.
Nicht zur Polizei
In Taiwan selbst gebe es für die Probleme der Fremdarbeiter nur wenig Verständnis, sagt Gracie Liu, die Leiterin des Zentrums. «Die meisten Taiwanesen finden, die ausländischen Arbeiter seien von sich aus hier her gekommen und sollen sich deshalb nicht beklagen», sagt die 34-Jährige.
Dabei wüssten die Migranten oft nicht, an wen sie sich mit ihren Problemen wenden sollten. Zur Polizei zu gehen, trauten sich nur wenige, sagt Liu, da viele Arbeitgeber mit guten Beziehungen zu den Lokalbehörden prahlten. Ausserdem würden die meisten Arbeiter wenig bis gar kein Chinesisch verstehen.
Das Chinesisch von Georg L’Homme sei dagegen ausgezeichnet, lobt Liu ihren Schweizer Kollegen. Die ersten neun Monate in Taiwan lernte er mehrere Stunden pro Tag Mandarin. Nur die verschiedenen Töne würden ihm noch zu schaffen machen, sagt er und schmunzelt, «das chinesische Wort für Fremdsprache und Fremdgehen unterscheidet sich nur durch einen Ton». Seine Chinesisch-Lehrerin habe den Fehler aber lustig gefunden und ihn gebeten, den Ausdruck mit der korrekten Aussprache zu wiederholen.
Weiterbildung zum Mitmachen
Mit seinen Kollegen spricht Georg L’Homme neben Englisch vor allem Chinesisch. Gracie Liu schätzt an ihm, dass er die ausstehenden Löhne der Migranten so genau ausrechnen könne. Ausserdem informiert er die anderen Mitarbeiter regelmässig über internationale Regelungen im Arbeitsrecht. Dies sei vor allem bei Diskussionen mit den taiwanischen Behörden sehr hilfreich, so Liu weiter.
In seiner Zeit in Taiwan hat der Zürcher zudem die Webseite des Zentrums ausgebaut, sowie ein zentrales Fallbearbeitungssystem eingeführt. Seine eigenen Erfahrungen aus der Schweiz gibt er in Kursen an die Angestellten und freiwilligen Helfer der Migrantenzentren weiter. Ein wichtiger Teil sei dabei die Technik, mit der die Migranten befragt würden. So scheinen essentielle Informationen für die Arbeiter selbst oft nebensächlich. Dass jemandem zum Beispiel der Pass nach der Ankunft weggenommen werde, fänden viele Arbeiter nicht erwähnenswert.
In seinen Kursen müssen die Teilnehmer aktiv mitmachen, was bei den Kollegen am Anfang für Überraschung sorgte. Die Vietnamesin Mai Anh Thu sagt, sie sei es sich gewöhnt, dass der Kursleiter rede und die Teilnehmer zuhörten. «Bei Georg war plötzlich unsere Meinung gefragt, welche Themen uns interessieren», sagt sie. Auf diese Weise habe man dann gemeinsam praxisnahe Fälle gelöst, was sie in ihrer Ausbildung an der Universität vermisst habe.
Georg L’Hommes Einsatz in Taiwan ist auf fünf Jahre beschränkt. Nach dem chinesischen Neujahrsfest Anfang 2013 fliegt er zurück in die Schweiz; zusammen mit seiner taiwanischen Ehefrau, die er hier kennen gelernt hat, und dem gemeinsamen zwei Monate alten Sohn.
* Namen der Arbeitsmigranten geändert
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