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Strommangel: Die grosse Angst vor dem Blackout

Bauarbeiter beim Bau einer neuen Stromübertragungsleitung
Bau einer neuen Stromleitung in Sitten, Wallis, 8. Juni 2017. Keystone/ Valentin Flauraud

Stromnetzbetreiber:innen stehen angesichts der Schwankungen bei der Produktion erneuerbarer Energien und dem steigenden Stromverbrauch vor nie dagewesenen Herausforderungen.

Die Schweiz spielt beim Stromtransport in Europa als Transitland eine zentrale Rolle. Der Krieg in der Ukraine, die Energiewende und das fehlende institutionelle Rahmenabkommen mit der EU stellen die Schweizer Übertragungsnetzbetreiberin Swissgrid vor grosse Herausforderungen. Wie kann die Gefahr eines Blackouts – eines Stromausfalls – abgewendet werden?

Am 8. Januar 2021 ging irgendetwas schief. Ein plötzlicher Frequenzabfall im europäischen NetzExterner Link spaltete den Kontinent buchstäblich in zwei Hälften: Südosteuropa auf der einen und Mittel- und Westeuropa auf der anderen Seite.

Die Anomalie wurde durch eine Störung in einem Umspannwerk in Kroatien verursacht und dauerte etwa eine Stunde. Die meisten Menschen haben wohl nichts bemerkt, aber der Vorfall hätte Hunderte von Millionen Personen auf dem europäischen Kontinent ohne Strom lassen können.

carta dell europa
Eine Störung am 8. Januar 2021 im europäischen Stromverbundnetz spaltete den Kontinent vorübergehend in zwei Teile. Entso-E

Dass damals ein grossflächiger Stromausfall vermieden werden konnte, ist auch dem Eingreifen von SwissgridExterner Link zu verdanken. Dieses Unternehmen betreibt das Hochspannungsnetz in der Schweiz und ist für den Stromfluss zwischen der Schweiz und den Nachbarländern zuständig.

Als Koordinationszentrum für Südeuropa hat Swissgrid zusammen mit den anderen europäischen Netzbetreiber:innen dazu beigetragen, das Netz zu entkoppeln und einen Zusammenbruch zu verhindern.

«Das ist unsere Aufgabe: Das Vorhersehbare zu antizipieren und das Unvorhersehbare in Echtzeit zu steuern», sagt Swissgrid-Sprecher Alessandro Cameroni gegenüber swissinfo.ch.

Strommangellage als grosses Risiko

Das Schweizer Stromnetz ist ein wesentlicher Bestandteil des europäischen Netzes, das mehr als 530 Millionen Menschen in über 30 Ländern mit Strom versorgt. Die Schweiz ist auch das Land, in dem das internationale Verbundnetz geboren wurde. Im «Stern von LaufenburgExterner Link«, einem Unterwerk im Kanton Aargau in der Nordwestschweiz, wurden 1958 erstmals die Stromnetze der Schweiz, Deutschlands und Frankreichs miteinander verbunden.

«Das Risiko eines Strommangels für die Schweiz und Europa ist so gross wie nie zuvor.»

Valérie Bourdin, Sprecherin des Verbands Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen VSE

Heute ermöglichen 41 grenzüberschreitende Leitungen der Schweiz den Export von Strom im Sommer und vor allem den Import im Winter, wenn die heimische Wasserkraftproduktion sinkt. In den kältesten Monaten des Jahres importiert die Schweiz bis zu 40 Prozent ihres Strombedarfs aus dem Ausland.

An Unbekannten mangelt es jedoch nicht. Laut dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz gehört eine Strommangellage zu den grössten Risiken für die SchweizExterner Link. «Angesichts der aktuellen Entwicklung ist das Risiko eines Strommangels für die Schweiz und Europa so gross wie nie zuvor», sagt Valérie Bourdin, Sprecherin des Verbands Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen VSEExterner Link.

Steigende Energiepreise, die Schwankungen (Volatilität) der erneuerbaren Energiequellen und die internationale politische Lage stellen eine nie dagewesene Herausforderung dar. «Das Schweizer Stromsystem erlebt den grössten Wandel in seiner Geschichte», sagt Cameroni.

Gleichgewicht zwischen Produktion und Verbrauch

Es ist nützlich zu verstehen, wie der Strom in unsere Häuser gelangt und warum 50 die magische Zahl für die Netzbetreiber:innen ist, bevor wir über die Risiken eines Blackouts sprechen und darüber, wie die Schweiz nach Lösungen sucht, um eine sichere Stromversorgung zu gewährleisten.

Die Kabel des Hochspannungsnetzes (220’000 und 380’000 Volt) transportieren den von Kraftwerken in der Schweiz und im Ausland produzierten Strom. Und dies ganz unabhängig davon, ob dieser Strom aus erneuerbaren Energiequellen (Sonne oder Wind), fossilen Brennstoffen wie Kohle oder Kernenergie erzeugt wird.

Grafik Schweizer Stromübertragungsnetz
Das von Swissgrid betriebene Schweizer Stromübertragungsnetz (380 kV-Leitungen in rot, 220 kV-Leitungen in grün) ist 6700 Kilometer lang und bildet das «Rückgrat» des Stromsystems. Kai Reusser / swissinfo.ch

Die Spannung muss so hoch wie möglich sein, um Energieverluste beim Transport von Elektrizität zu vermeiden. Bevor der Strom jedoch die regionalen und lokalen Verteilnetze und schliesslich die Steckdosen in den Haushalten erreicht, muss die Spannung schrittweise gesenkt werden.

Dies geschieht in Transformatoren in Umspannwerken, in denen die Spannung auf die 230 Volt abfällt, einer Spannung, welche es erlaubt, unsere Handys aufladen oder die Kaffeemaschine zu betreiben.

Umspannwerke
Die Spannung des in Kraftwerken erzeugten Stroms wird in Umspannwerken schrittweise gesenkt, bevor er die Haushalte erreicht. Swissgrid

Die Spannung ist nicht der einzige Schlüsselparameter. Um Strom effizient und sicher transportieren zu können, muss die Frequenz im europäischen Netz bei 50 Hertz gehalten werden (in den USA und einigen Regionen Japans beträgt sie 60 Hertz).

Schon das kleinste Ungleichgewicht kann die Stabilität des Netzes gefährden und zu dessen Zusammenbruch führen. Dies geschah – zumindest beinahe – am 8. Januar 2021, als die Frequenz von 50 auf 49,75 Hertz sank.

Spannung: Sie wird in Volt (V) gemessen. Sie ist die «Kraft», die den Strom zum Fliessen bringt. Je grösser der Unterschied zwischen dem positiven und dem negativen Pol, desto höher ist die Spannung.

Stromstärke: Sie wird in Ampere (A) gemessen und gibt die Anzahl der Teilchen an, die sich gleichzeitig durch ein leitendes Element bewegen. Je mehr Elektronen fliessen, desto höher ist die Stromstärke.

Frequenz: Die Frequenz wird in Hertz (Hz) gemessen und gibt an, wie schnell der Strom pro Sekunde eine Richtung ändert.

Damit die Frequenz konstant bleibt, müssen sich Stromerzeugung und -verbrauch in perfektem Gleichgewicht befinden. «Bei jedem denkbaren Ereignis in Europa, zum Beispiel einer Überproduktion von Strom in Windparks in Norddeutschland, müssen wir sicherstellen, dass die Frequenz bei 50 Hertz bleibt», sagt Cameroni.

Netzbetreiber:innen reagieren auf Frequenzschwankungen, indem sie Kraftwerke auffordern, mehr oder weniger Strom zu produzieren. Eine gute Planung – die manchmal ein Jahr im Voraus beginnt – ermöglicht es, die Belastung des Netzes und der grenzüberschreitenden Leitungen abzuschätzen und so das Gleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch aufrechtzuerhalten.

Europas grösstes Kernkraftwerk geht ans Netz

Die Frequenz von 50 Hertz muss auch beibehalten werden, wenn neue Länder an das europäische Netz angeschlossen werden. Das letzte Mal war dies im März 2022 der Fall, als die Ukraine und MoldawienExterner Link hinzukamen.

Diese Integration hätte erst 2023 erfolgen sollen, wurde aber wegen des Kriegs in der Ukraine vorgezogen. Laut Emanuele Colombo, strategischer Berater bei Swissgrid, wurden Massnahmen ergriffen, «um zu verhindern, dass sich Probleme, die in der Ukraine auftreten könnten, unkontrolliert auf Europa ausbreiten».

Das Kernkraftwerk Zaporizhzhia in der Zentralukraine ist das grösste in Europa. Eine plötzliche Abschaltung oder ein erheblicher Rückgang der Stromerzeugung könnte sich auf das gesamte Verbundnetz auswirken. «Die Frequenzabweichung wäre so erheblich, dass beschlossen wurde, Massnahmen zum Schutz der Grenze zu ergreifen: Im Falle eines Problems würde die Ukraine sofort vom Netz getrennt», so Colombo.

Für Swissgrid und andere Netzbetreiber:innen in Europa stellt der Anstieg der Energiepreise die wichtigste Folge des Krieges in der Ukraine dar. Betroffen sind insbesondere die Kosten der sogenannten Regelenergie, die Swissgrid auf internationalen Plattformen einkauft, um unvorhergesehene Schwankungen im Netz zu bewältigen.

Im Falle eines plötzlichen Kraftwerksausfalls kann diese Reserve in Sekundenschnelle eingespeist werden, um die fehlende Leistung zu kompensieren und das Netz stabil zu halten.

15 Jahre Realisierungszeit als Problem

Mit dem Ausbau und steigenden Anteil der erneuerbaren Energien wird die Fähigkeit, auf Schwankungen zu reagieren, immer wichtiger. Das gilt auch für die Schweiz, durch die rund 10 Prozent des Stroms im europäischen Netz fliessen.

Sonne und Wind produzieren unregelmässig Strom. Und Spanien produziert beispielsweise grosse Mengen an Solarenergie, die ins Netz eingespeist und in andere Länder verteilt werden müssen.

Für Swissgrid ist es wichtig, eine Infrastruktur zu modernisieren, die grösstenteils in den 1960er Jahren gebaut wurde. «Wir müssen das Netz an die heutigen Bedürfnisse anpassen, indem wir es ausbauen und, wo nötig, neue Linien erstellen», sagt Cameroni.

«Ein grosses Problem in der Schweiz bedeutet ein grosses Problem für Europa und umgekehrt.»

Emanuele Colombo, strategischer Berater bei Swissgrid

Christian Schaffner, Direktor des Energy Science CenterExterner Link an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, ist der Ansicht, dass das Schweizer Übertragungsnetz hervorragend ist. Es ist tatsächlich – im Vergleich zu anderen Ländernetzen in Europa – extrem kapillar angelegt und widerstandsfähig.

«Wenn man aber in die Zukunft schaut, gibt es auf allen Ebenen neuralgische Punkte «, erklärt Schaffner in einem InterviewExterner Link. Beim Übertragungsnetz gebe es einige Knotenpunkte, Transformatoren und Leitungen, die heute bereits an der Kapazitätsgrenze gestossen seien und ausgebaut werden sollten.

Für die Erneuerung und den Ausbau des Schweizer Netzes hat Swissgrid im Rahmen des 2015 erstellten Mehrjahresplans «Strategisches Netz 2025Externer Link» Investitionen von insgesamt 2,5 Milliarden Franken vorgesehen. Das Unternehmen hofft, dass der Bundesrat die Bewilligungsverfahren für neue Leitungen beschleunigt, so wie er es auch bei neuen Wasser- und Windkraftwerken zu tun gedenkt.

Im Durchschnitt dauert der Bau einer neuen Stromleitung etwa 15 JahreExterner Link. Laut Emanuele Colombo von Swissgrid viel zu lange:  «Diese Realisierungszeit ist nicht mehr vereinbar mit einer Energiewelt, die sich mit rasant hoher Geschwindigkeit entwickelt.»

Mehr Strom für die EU, weniger für die Schweiz

Doch neue Investitionen und die Beschleunigung der Verfahren allein reichen nicht aus. Colombo betont, dass Kooperation und Koordination mit den anderen europäischen Netzbetreiber:innen unerlässlich seien, um Kapazitäten für den grenzüberschreitenden Stromaustausch zu schaffen. Diese Zusammenarbeit wird jedoch durch das Fehlen eines Stromabkommens zwischen der Schweiz und der EU erschwert.

Ein solches sektorielles Abkommen ist nämlich an den Abschluss eines institutionellen Rahmenabkommens geknüpft. Doch der Bundesrat hat im Mai 2021Externer Link die Verhandlungen mit Brüssel zu diesem Rahmenabkommen abgebrochen. «Ohne ein Stromabkommen besteht ein erhöhtes Risiko ungeplanter Energieflüsse, die die Netzstabilität gefährden», so Colombo.

Die Situation hat sich durch das Inkrafttreten des neuen EU-Pakets für saubere Energie und insbesondere durch die «70-Prozent-RegelExterner Link» noch weiter verkompliziert. Diese besagt, dass die EU-Mitgliedstaaten ab 1. Januar 2020 mindestens 70 Prozent der Kapazität ihrer Netzelemente für den Handel zwischen den EU-Mitgliedstaaten zur Verfügung stellen müssen. Einfach ausgedrückt: mehr Strom für die Mitgliedstaaten, weniger für die Schweiz.

Dies könnte sich allgemein negativ auf die Netzstabilität und insbesondere im Winterhalbjahr auf die Versorgungssicherheit der Schweiz auswirken, denn im Winter ist die Schweiz auf Stromimporte angewiesen. Im schlimmsten Fall könnte die Schweiz erklären, dass ihr Netz nicht zur Verfügung steht  und den Stromtransit auf ihrem Gebiet reduzieren.

Swissgrid versucht das Problem durch den Abschluss von bilateralen technischen Vereinbarungen mit anderen europäischen Netzbetreiber:innen zu lösen.

Nach Angaben von Colombo ersetzen diese Verträge jedoch nicht das Stromabkommen mit der EU. «Es besteht ein gegenseitiges Interesse an einer Zusammenarbeit, denn ein grosses Problem in der Schweiz bedeutet ein grosses Problem für Europa und umgekehrt», sagt er. «Die Schweiz braucht Europa und Europa braucht die Schweiz.»

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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