Sie hat die digitale Jugend im Blick
Sandra Cortesi ging einst für acht Monate an die Harvard University. Heute, bald zehn Jahre später, ist sie noch immer dort. Weltweit setzt sie sich dafür ein, dass Jugendliche von digitalen Medien profitieren. Sie ist die vierte Digitalpionierin, die wir in unserer Serie "Swiss Digital Pioneers" porträtieren.
Ihr Zuhause liegt in Gehdistanz zum Campus der Harvard University bei Boston. Ein Auto hat sie nicht. Aber Sandra Cortesi steigt in Flugzeuge wie andere ins Tram. Sie ist regelmässig beruflich in Südamerika, in Asien, in Europa. Ihre Arbeit als Expertin für Jugend und Internet ist global gefragt. Für das Berkman Klein Center for Internet & SocietyExterner Link hat sie verschiedene globale Initiativen entwickelt und baut Brücken zu UNICEF. Neuerdings sitzt sie auch im Beirat des Swiss Media ForumExterner Link.
Als wir neulich beide am MenschenrechtsforumExterner Link zu digitalen Kompetenzen referieren, versuchen wir, einen Lunch-Termin zu vereinbaren. Ich zücke meine schwarze Moleskine-Papieragenda. Sie blickt ungläubig. “Das ist deine Agenda?” Der Termin kommt zustande – trotz ihren zahllosen internationalen Meetings und Auftritten.
Nah bei den Jugendlichen
An einem Regentag sprechen wir in der Zürcher Riobar über ihren Werdegang. Geboren ist Sandra Cortesi in Venezuela als Kind Schweizer Eltern, aufgewachsen in Kolumbien und der Schweiz. Die Mitdreissigerin spricht Ostschweizer Dialekt, aber auch fliessend Englisch und Spanisch. Mehrsprachigkeit und Weltgewandtheit sind wichtige Elemente ihrer Tätigkeit.
Nach Studium und Forschungstätigkeit in der Schweiz wird sie am Harvard-Internet-Institut mit dem Aufbau des Youth and MediaExterner Link-Projekts betraut. Ein wichtiger Fokus ihrer Arbeit sind zunächst Jugendliche und digitale InformationsqualitätExterner Link: Das Projekt erforscht, wie Jugendliche im Netz Information suchen, bewerten und austauschen.
Um nah an Lebensrealitäten der Jugendlichen zu kommen, involviert Cortesi von Beginn weg Jugendliche in den Forschungsalltag. Dank dieses Ansatzes können Erfahrungen, Bedürfnisse und Meinungen junger Menschen direkt miteinbezogen werden. Sie sagt: «Das schafft einzigartige Einblicke in die kreativen und erzieherischen Entfaltungsmöglichkeiten der Jugendaktivitäten im digitalen Raum. Gleichzeitig werden die echten Sorgen angesprochen, die mit ihrem Leben im Internet einhergehen.»
Gemeinsam mit ihrem Team und in enger Zusammenarbeit mit Jugendlichen entwirft sie LernmaterialienExterner Link, die Schulen und Lehrpersonen weltweit kostenlos nutzen und modifizieren können, damit sich junge Menschen auf die Chancen und Herausforderungen der digitalen Welt vorbereiten können. Auch Facebook nutzt ihre Materialien für Jugendliche weltweit in einer eigens konzipierten Online-BibliothekExterner Link.
Besonders beeindruckt mich, dass sie sich für ein Projekt zum Thema jugendliche Strassengangs und Social MediaExterner Link auch in eine der gefährlichsten Gegenden der USA wagt: die South Side in Chicago. Der Taxi-Chauffeur weigert sich aus Sicherheitsgründen, sie dort abzusetzen. Sie mietet ein Auto und fährt selbst mit ihrem Team zum Ort der Datenerhebungen.
«Geht auf die Jungen zu»
Welche Medien nutzt sie selber? «Ich habe Digital-Abos der Neuen Zürcher Zeitung und der New York Times. Daneben nutze ich aber auch intensiv Instagram, LinkedIn, Twitter und Game-Apps.» Ihre Empfehlung an Medienunternehmen, wie junge Menschen überhaupt noch zu erreichen sind, lautet immer wieder: «Geht auf Jugendliche zu, nehmt ihre Perspektive ein und ermöglicht ihnen aktiv mitzumachen.»
Erstmals begegnet sind wir uns 2008. Es war an der Vernissage des Buches Generation InternetExterner Link von Urs GasserExterner Link. Dieser ist heute Harvard-Professor, Mitglied von Angela Merkels Digitalrat und einer der einflussreichsten Digitalpioniere weltweit.
Zur Zeit dieser Buchvernissage arbeitet Sandra Cortesi bereits zwei Jahre am Digital Natives-Projekt an der Universität St. Gallen mit und studiert gleichzeitig in Basel Psychologie mit Fokus auf Mensch-Maschine-Interaktion. Seit der Vernissage kreuzen sich unsere beruflichen Wege regelmässig.
Unerschütterlich positiv
Eine Konstante an ihr fällt mir heute auf. Es ist ihre unerschütterliche Überzeugung, dass digitale Medien für Jugendliche eine positive Ressource sind. Das ist erfrischend. Wenn sie an Schweizer Debatten teilnimmt, wirkt sie oft wie die Optimistin in der Runde. «In der Schweiz tendiert man dazu, den Fokus auf die negativen Auswirkungen zu legen», sagt sie.
Sie betont, dass sie sich ja auch mit den Gefahren digitaler Medien auseinandersetzt. Davon gibt es viele, angefangen bei CybermobbingExterner Link und Hassrede, über den Einfluss von Bildschirmen auf Gesundheit und Wohlbefinden bis hin zur PrivatsphäreExterner Link. Falschinformationen gehören ebenso dazu, schliesslich auch mangelnde Inklusion, etwa im Kontext von Künstlicher IntelligenzExterner Link.
Wer aber den Fokus nur auf Risiken lege, verpasse, dass für viele Teenager das Internet zentral sein kann, sagt Sandra Cortesi. Unter anderem auch, um sich mit Gleichgesinnten auszutauschen und digitale Kompetenzen zu erlernen. Zurzeit befasst sie sich vermehrt mit Künstlicher IntelligenzExterner Link und digitalen Kompetenzen.
Sandra Cortesi möchte Jugendlichen weltweit Zugang zu den immensen Potenzialen des Internets ermöglichen trotz Problemen mit Infrastruktur, Zensur und einem grossen Bildungsbedarf. In einer überraschenden Hinsicht ist Sandra Cortesi neben ihrem Engagement für Jugend und Internet ebenso Pionierin: Sie verfügt wohl über die grösste Sammlung von auffälligen Smartphone-Hüllen. Ein kleines Online-Museum mit Fotos dieser Hüllen wäre ein unwichtiger, aber herzerwärmender Beitrag zur globalen Digitalkultur.
In der Serie SWISS DIGITAL PIONEERS porträtiert SWI swissinfo.ch interessante Schweizer Persönlichkeiten im Ausland oder mit internationaler Ausstrahlung, die früh das Potenzial des Internets erkannt haben und es für ihre Tätigkeiten erfolgreich genutzt haben. Die Autorin Dr. Sarah GennerExterner Link ist Medienwissenschaftlerin und Digitalexpertin. 2017 erschien ihr Buch «ON | OFF».
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