Uhrenauktionen: ein Blick hinter die Kulissen des Millionenspektakels
Die Uhrenauktionen, die Anfang November von den Häusern Antiquorum, Christie's und Phillips in Genf veranstaltet wurden, erzielten einen Erlös von über 100 Millionen Franken. Für die Hersteller ist der Second-Hand-Markt längst zum Gradmesser geworden.
«Das Urteil Gottes» – so beschreibt François-Paul Journe, der renommierte Uhrmacher und Gründer der Marke F.P.Journe, Uhren-Auktionen. Journe ist der einzige, der den prestigeträchtigen Grand Prix d’Horlogerie de Genève dreimal gewinnen und dreimal den Preis der Goldenen Nadel (Aiguille d’Or) mit nach Hause nehmen konnte.
Nach dem dritten Triumpf nahm der französische Uhrmacher nicht mehr am Grand Prix teil. Seitdem sind Auktionen seine einzigen «Wettbewerbe». Der 65-Jährige anerkannte Uhrmachermeister gehört zum erlesenen Kreis der » Millionärsuhrmacher», deren Kreationen also für mehr als eine Million Schweizer Franken verkauft werden.
Das Auktionshaus Christie’s widmete ihm am 12. Mai 2023 die Sonderauktion «The Art of F.P. Journe», bei der 40 Uhren für einen Gesamtpreis von fast 13,7 Millionen Franken verkauft wurden. Laut dem Jahresbericht von The Mercury Project wurde F.P.Journe in diesem Jahr zur drittbeliebtesten Marke auf Auktionen, hinter den unumstösslichen Patek Philippe und Rolex.
Unabhängige Marken sind beliebt
Es ist nur ein Beispiel dafür, wie Uhrenauktionen eine Hierarchie unter Designer:innen und Marken etablieren und ihre Attraktivität für Sammler:innen auf der ganzen Welt genau messen.
Diese Auktionen ermöglichen es den jüngeren Marken – F.P. Journe ist mit seinen 24 Jahren im Vergleich zu den 184 Jahren von Patek Philippe und den 118 Jahren von Rolex noch recht jugendlich-, mit den Marktriesen zu konkurrieren.
«Viele Leute wenden sich jetzt den ‹unabhängigen› Marken zu, die Preise für Marken wie J.P.Journe oder Philippe Dufour steigen», erklärt Rémy Julia, Uhrenspezialist bei Christie’s.
«Ich sehe dahinter den Wunsch der neuen Generation, etwas zu finden, das sie von den Älteren unterscheidet. Patek Philippe und Rolex dominieren immer noch den Markt mit 70 bis 80 Prozent der Auktionen. Die ersten beiden Plätze sind solide besetzt, interessanter ist jedoch, dass der dritte Platz für die Konkurrenz offen bleibt».
Ein halbes Jahrhundert Uhrenauktionen
Vor fast einem halben Jahrhundert, im Jahr 1974, organisierte Osvaldo Patrizzi in Genf die erste spezialisierte Uhrenauktion, aus der das von ihm mitbegründete Haus Antiquorum hervorging. Seitdem sind Uhrwerke fast ebenso gefragt wie Kunstschätze.
Die schönen Uhren, die Luxus und Kunst miteinander verbinden, haben nicht nur ein neues Publikum, sondern auch eine neue Generation von Auktionatoren angezogen. Bis heute hält Genf seinen Status als Hauptstadt der Uhrenauktionen, vor Hongkong, Dubai oder New York.
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In seinen Memoiren erzählt Osvaldo Patrizzi, dass ihn 1982, nach dem überaus erfolgreichen Verkauf einer Uhr mit ewigem Kalender von Patek Philippe, der Markeninhaber Philippe Stern anrief. Er wollte verstehen, warum die gleichen Uhren, die in seinen Schaufenstern ausgestellt waren, einen viel höheren Wert erzielen konnten.
Osvaldo Patrizzi fragte sich, welcher Preis gerechtfertigter ist: der Preis in der Boutique, der nach Produktionsstandards berechnet wird, oder der Preis in den Verkaufsräumen, der von der Leidenschaft der Sammler inspiriert wird.
Aurel Bacs, Uhrenexperte und Auktionator bei Bacs & Russo, antwortet: «Der Wert einer Uhr wird durch die Seltenheit des Modells, seine Geschichte und seine Einzigartigkeit bestimmt. Philatelisten suchen zum Beispiel nach Briefmarken mit einem besonderen Siegel oder nach ungewöhnlich geformten ‹Zähnen'».
Uhren als Investitionsobjekt
Da die Preise auf dem Markt für gebrauchte Uhren in den letzten Jahren stark gestiegen sind, werden Uhren von immer mehr Menschen gekauft, nur um sie später wieder zu verkaufen.
Diese Investition ist kein einfacher Schritt und erfordert entweder umfassende Fachkenntnisse in der Uhrmacherei oder den Rat erfahrener Fachleute.
Aurel Bacs warnt: «Wenn man eine Uhr mit dem Ziel kauft, finanzielle Gewinne zu erzielen, muss man genauso viele Faktoren berücksichtigen wie beim Sammeln von Kunstwerken oder beim Investieren an der Börse. Mein Rat ist, aus Leidenschaft zu investieren. Der Hauptvorteil liegt in der Freude, eine schöne und seltene Uhr zu besitzen, anstatt sie in einen Tresor zu sperren und darauf zu warten, dass sie ihren Wert um ein Vielfaches steigert.»
Uhren können zwar an Wert gewinnen, aber auch verlieren. Auktionen dienen als Barometer für den Markt. Steigende oder fallende Preise können tiefgreifendere Umwälzungen ankündigen.
Laut dem Bericht von The Mercury Project wurden im ersten Halbjahr 2023 auf Uhrenauktionen 312 Millionen Franken umgesetzt, was einem Rückgang von 18% gegenüber dem ersten Halbjahr 2022 entspricht.
Die Auktionator:innen bleiben jedoch optimistisch. Alexandre Ghotbi, Uhrenexperte bei Phillips, meint: «Der Rückgang betrifft in der Regel nur einen kleinen Teil der Luxusmodelle. Allerdings werden diese Uhren immer noch teurer verkauft als in den Boutiquen».
Eine Feier der Uhrmacherei
Die Versteigerung von Uhren ist nicht nur einer wohlhabenden Elite vorbehalten. Viele historische Zeitmesser bleiben erschwinglich und erzielen Preise, die mit denen für neue Modelle vergleichbar sind.
Dieser Trend ist besonders bei Online-Auktionen, aber auch bei grossen Saalauktionen zu beobachten. So wurde beispielsweise eine goldene Rolex für 2500 Franken versteigert, und eine Jaeger-LeCoultre erzielte bei Antiquorum am 4. und 5. November 5750 Franken.
Darüber hinaus sind grosse Auktionen eine unvergleichliche Attraktion für Menschen, die sich für Uhren begeistern, auch wenn sie nicht mitbieten möchten.
Die Auftritte von Aurel Bacs, der die Veranstaltung auf Englisch, Französisch, Deutsch und Italienisch leitet, mühelos mit dem Publikum kommuniziert und das Spiel mit der Spannung beherrscht, sind im Hotel La Réserve in Genf längst zu einem echten Theaterspektakel geworden.
«Es gibt eine Freude und eine Leidenschaft für den ‹Offline›-Verkauf, die nichts mit dem Online-Shopping zu tun haben. Wir sind keine Schauspieler, wir bieten Stücke für Hunderttausende oder sogar Millionen von Franken an», erklärt Alexandre Ghotbi. Aber bei den Auktionen bemühen wir uns, daraus eine echte Show zu machen, die für alle zugänglich ist. Das ist wichtig für das Image der schönen Uhren».
Seiner Meinung nach sind Auktionen eine wahre Feier der Uhrmacherei, die ihre Geschichte, ihre Entwicklung und ihre Perspektiven widerspiegeln. Sie sind heute weit mehr als nur ein kommerzielles Ereignis.
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Editiert von Samuel Jaberg, aus dem Französischen übertragen von Marc Leutenegger
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