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Trotz Gesetzen bleibt sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz weit verbreitet

#metoo
Keystone / Christophe Petit Tesson

Zahlreiche Länder haben Gesetze gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlassen. Doch Missbräuche geschehen weiterhin. In Europa haben sechs von zehn Frauen in ihrem Berufsleben bereits geschlechtsspezifische Gewalt erlebt.

Unangemessene Gesten, sexuelle Andeutungen, Mobbing, Machtmissbrauch… Ein BelästigungsskandalExterner Link erschütterte letzten Herbst das Westschweizer Radio und Fernsehen RTS (eine Unternehmenseinheit der SRG, zu der auch swissinfo.ch gehört). Der Vorfall zeigt, dass sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz in der Schweiz immer noch Realität ist.

Laut einer Erhebung aus dem Jahr 2008Externer Link haben 28% der Frauen in ihrem Berufsleben schon einmal sexuelle Belästigung erlebt. Eine neue StudieExterner Link soll nun Ausmass und Entwicklung des Problems zeigen. Ergebnisse sind im Jahr 2021 zu erwarten. Das Auffliegen der Weinstein-Affäre und die #MeToo-Bewegung haben Betroffene ermutigt, ihr Schweigen über sexuelle Belästigung zu brechen, was sich möglicherweise auf die Studie auswirken wird.

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In der Europäischen Union haben 55% der Frauen einmal in ihrem Leben sexuelle Belästigung erlebt, 32% davon am Arbeitsplatz, so eine 2014 von der EU-Agentur für Grundrechte veröffentlichte UmfrageExterner Link.

Laut einer neueren UmfrageExterner Link (siehe Kasten am Ende des Artikels), die 2019 in fünf europäischen Ländern durchgeführt wurde, haben sechs von zehn Frauen im Laufe ihrer Karriere bereits geschlechtsspezifische oder sexuelle Gewalt erlitten. Und das trotz des langjährigen Kampfes von Frauen auf der ganzen Welt für Gleichbehandlung und würdige Arbeitsbedingungen.

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Sexueller Missbrauch in Fabriken

Die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert leistete der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz Vorschub: Die bezahlte Arbeit von Frauen verbreitete sich in ganz Europa und viele zum Teil sehr junge Frauen waren in Fabriken, Bergwerken und Werkstätten beschäftigt.

Allerdings hatten diese Frauen nicht die gleichen Rechte wie Männer: In Frankreich und Spanien beispielsweise sah das Gesetz vor, dass das Vermögen einer verheirateten Frau von ihrem Ehemann verwaltet wurde. Sie selbst hatte keine rechtliche Autonomie.

Arbeiterinnen wurden diskriminiert. Häufig erhielten sie ihren Arbeitsplatz nur gegen sexuelle Gefälligkeiten oder wurden unter Kündigungsandrohung sexuell genötigt.

Frauen rebellierten, traten Gewerkschaften bei und schlossen sich den Arbeiterbewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts an, um gegen den Machtmissbrauch durch ihre männlichen Chefs und Kollegen zu protestieren. Insbesondere standen sie während des Generalstreiks 1880 in Deutschland und bei Fabrikstreiks in Frankreich an vorderster Front.

Louis, Marie-Victoire, Le droit de cuissageExterner Link, France, 1860-1930 (Paris: Éditions de l’Atelier, 1994).

Jeanne-Marie Wailly, Les différentes phases du travail des femmes dans l’industrieExterner Link, Innovations 2004/2 (no 20).

Isabelle Gernet, «Harcèlement sexuel au travailExterner Link», Encyclopédie pour une histoire numérique de l’Europe [en ligne], ISSN 2677-6588.

Jane Aeberhard-Hodges, Le harcèlement sexuel sur les lieux de travailExterner Link: jurisprudence récente, Revue internationale du Travail, vol. 135 (1996), no 5.

Note sur les définitions du harcèlement sexuelExterner Link, République française, Groupe de travail sur le harcèlement sexuel, juin 2012.

Besonders in Erinnerung geblieben sind die Ereignisse, die sich 1905 in der Porzellanfabrik Haviland in Limoges abspielten. Auslöser der Bewegung war ein besonders aufsehenerregender Fall: Die Beschäftigten traten in den Streik, um die Entlassung eines Vorarbeiters zu fordern, der die Arbeiterinnen misshandelte. Der Konflikt artete aus, in der Stadt wurden Demonstrationen organisiert und die Armee wurde hinzugezogen. Die Soldaten schossen auf die Demonstrierenden, töteten einen Mann und verletzten mehrere andere. Am Ende wurde der fehlbare Vorarbeiter jedoch entlassen.

Krieg und Zwischenkriegszeit

Einen grossen Einschnitt in den Beziehungen der Geschlechter am Arbeitsplatz bedeutete der Erste Weltkrieg. Während die Männer an der Front kämpften, waren die Frauen vermehrt in unterschiedlichen Bereichen tätig, was ihnen eine grössere Unabhängigkeit in ihrem sozialen, familiären und beruflichen Leben ermöglichte.

In der Zwischenkriegszeit wurden sie jedoch wieder in den Haushalt verdrängt oder waren gezwungen, prekäre und schlecht bezahlte Jobs anzunehmen.

Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begannen die Frauen, sich entschiedener für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz einzusetzen. Mit den feministischen Bewegungen änderte sich die Einstellung ab den 1960er-Jahren: Sexuelle Belästigung wurde nach und nach anerkannt, definiert und in nationalen Gesetzen verankert.

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Die Vereinigten Staaten waren eine Vorreiterin, da sie bereits 1964 das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in den Civil Rights ActExterner Link aufnahmen. Auch sexuelle Belästigung wurde durch dieses Gesetz abgedeckt, doch es dauerte weitere zehn Jahre, bis die Gerichte Urteile dazu fällten und eine Rechtsprechung entwickelten, die auch die Verantwortung der Arbeitgebenden definierte.

In Grossbritannien schützt der «Sex Discrimination ActExterner Link» seit 1975 vor Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts. Spanien führte 1980 ein Gesetz über den Status der Arbeitnehmenden ein. In Kanada wurde sexuelle Belästigung erstmals 1983 gesetzlich verankert. In den 1990er-Jahren haben mehrere Länder sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz gesetzlich unter Strafe gestellt, zum Beispiel Argentinien, Chile, Costa Rica, die Philippinen, Neuseeland und Südafrika.

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Langsamer Fortschritt in Europa

In Europa dauert der Gesetzgebungsprozess zur expliziten Bestrafung von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz seine Zeit: 1986 verabschiedete das Europäische Parlament eine ResolutionExterner Link, in der es die nationalen Behörden aufforderte, diese Art von Gewalt rechtlich zu definieren, um den Opfern die Möglichkeit zu geben, Beschwerden einzureichen, und um Sanktionsmöglichkeiten in das Gesetz aufzunehmen. Der Rat der EU verfeinerte seine Definition in einer ResolutionExterner Link von 1990.

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Infolgedessen haben mehrere Länder Gesetze zur Bestrafung sexueller Belästigung am Arbeitsplatz erlassen, darunter Frankreich (1992), Deutschland (1994), Österreich (1995), Belgien (1992), Finnland (1995) und Irland (1996).

In der Schweiz wird sexuelle Belästigung durch das Bundesgesetz vom 24. März 1995 über die Gleichstellung von Frau und MannExterner Link als diskriminierendes Verhalten angesehen. Der Artikel 5 sieht vor, dass der Arbeitgeber auch zur Zahlung einer Entschädigung an das Opfer verurteilt werden kann, sofern er nicht nachweisen kann, dass er geeignete Massnahmen zur Verhinderung oder Beendigung der Belästigung ergriffen hat.

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Das Problem bleibt bestehen

Alle diese Gesetzgebungen wurden inzwischen präzisiert und angepasst. Viele andere Länder haben Gesetzesartikel eingeführt, um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zu bestrafen. Laut einer Auswertung der WeltbankExterner Link von 2019 haben 140 von 190 Staaten eine spezifische Gesetzgebung zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz und 133 sehen Sanktionen vor.

Doch trotz dieses juristischen Arsenals gibt es immer wieder Skandale und Berichte von sexueller Belästigung. «Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt sind nach wie vor weit verbreitet und betreffen alle Länder, alle Berufe und alle Formen der Arbeit», stellt die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) fest.

Deshalb hat die Generalkonferenz der ILO im Juni 2019 ein Übereinkommen gegen Gewalt und Belästigung verabschiedet und damit erstmals internationale Standards gesetzt. Es bleibt abzuwarten, welche Länder diese Konvention ratifizieren werden.

Laut einer UmfrageExterner Link des Instituts für Meinungs- und Marketingforschung in Frankreich (Ifop) haben sechs von zehn Frauen im Laufe ihrer Karriere bereits geschlechtsspezifische oder sexuelle Gewalt erfahren. Die Umfrage wurde mittels eines selbstverwalteten Online-Fragebogens 2019 unter einer Stichprobe von 5026 Frauen durchgeführt, die repräsentativ für die weibliche Bevölkerung im Alter ab 18 Jahren mit Wohnsitz in Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland und dem Vereinigten Königreich sind.

Pfiffe und anzügliche Gesten waren die am häufigsten berichteten Handlungen (26% waren ihnen wiederholt ausgesetzt), ebenso wie unangemessene Bemerkungen über den Körper oder die Kleidung (17% waren ihnen wiederholt ausgesetzt). Viele Frauen berichten zudem, körperlich angegriffen worden zu sein (14% klagten über wiederholt leichten Körperkontakt) oder sogar sexuell angegriffen worden zu sein im strengen Sinne des Wortes: 18% wurden mindestens einmal in ihrer Karriere im genitalen oder erogenen Bereich berührt.

Die Zahl der Opfer ist in Spanien (66 %) und Deutschland (68 %) höher. «Zwei Länder, die sowohl eine proaktive Politik als auch nationale Kontroversen erlebt haben, die zweifelsohne das öffentliche Bewusstsein für diese Themen erhöht haben», so die Autoren der Studie.

Sibilla Bondolfi

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