Weg mit den Stühlen
1968 kam nicht Knall auf Fall: Vielmehr dient es als Chiffre für unterschiedlichste Umbrüche. Die Serie "Vor 68" wirft Schlaglichter auf die Veränderungen in der Schweiz nach 1945. In den 60ern diagnostizierten Beobachter bei der Jugend eine "elektrischen Überspannung des Nervengeflechts". Dabei eroberte sich diese nur ihren Raum.
Musik war ein zentraler Motor der Revolte: Auf wundersame Art liess sie die Haare wachsen, die Kleider verlottern, die Manieren zerfallen. In Berichten über die 1960er schreiben Zeitgenossen über Musik wie über ein seligmachendes Virus. Sie erinnern sich an den Moment der Infektion, die Inkubationsphase und den Ausbruch. Doch liest man Zeitungsberichte über die Pop- und Rock-Konzerte in den 1960ern Jahren, hat man den Eindruck, dass gar nicht die Musik selbst im Zentrum stand, sondern die Bewegungen und die Geräusche der Fans. Die grosse Pop-Welle, die Anfang der 1960er Jahre, von Frankreich her kommend, durch die Romandie fegte lief beispielsweise nur unter dem Titel Yé-Yé-Musik: Musik als Silbenreihung. Pop-Musik erschien Anfangs der 1960ern auch in der Deutschschweiz vielen als unentzifferbar, also fokussierte man auf die Bewegungen – die man noch weniger verstand, aber zumindest zu beschreiben wusste: Die Musikanten rollten und wälzten sich auf dem Boden, während das Publikum brüllte und zuckte. In Satirezeitschriften ergötzte man sich über die spastischen Verrenkungen der Jugend. Es schien, als sei zu viele überschüssige Energie in die jungen Körper gefahren. Das erschien manchem unheimlich: «Wie magisch bewegte Marionetten» rasten die Zuschauer vor der Bühne, meinte ein Journalist des Tages-Anzeigers 1965 – sicher eine Folge der «elektrischen Überspannung des Nervengeflechts“. Auch hier wurden die Begeisterten krankgeschrieben.
«Ausser Rand und Band»
Heute beschleicht einen beim Lesen dieser Ekstase-Protokolle aber der Verdacht, dass das Hauptproblem darin bestand, dass die Jugendlichen den Konzerten einfach nicht ruhig sitzend beiwohnen mochten. So wurde im Tages-Anzeiger ein Konzert der Beatles beschrieben, das derart «ausser Rand und Band» geraten sei, dass man kaum mehr an eine Fortsetzung der Veranstaltung habe denken können – «es blieb beim mehrmaligen Versuch, die Zuschauer zum Einnehmen der Sitzplätze zu bewegen.»
Sitzen als Widerstand
Die 1960er waren auch geprägt von renitenten Körperhaltungen. Wo man sitzen musste, sprang man auf, aber wenn man nicht sitzen sollte, setzte man sich erst recht hin. So wurde das Sitzen zur selben Zeit zur Protestform erkoren: In den USA begannen schwarze Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen in den frühen 60er Jahren an Orten hinzusetzen, die durch rassistische Regelungen für Weisse reserviert waren. Das Sit-in erfreute sich bald auch in Europa grosser Beliebtheit zur Äusserung von Protest. Man sass hin, um sich zu widersetzen. Doch auch im Alltag weniger politisch zugespitzt, fand sich Widerstand gegenüber Normen der Körperhaltung: Man sass auf Tischen, flätzte auf dem Boden in Fussgängerzonen: Man gammelte, statt mit geradem Rücken zu sitzen.
Sitzen wurde bis ins Design ein kontroverses Thema: An der Generalversammlung des Schweizerischen Werkbundes im November 1967 wurden unter dem Titel „chair fun“ Phantasiestühle versteigert. Das Designerpaar Trix und Robert Haussmann gestaltete dafür einen Abgesang auf das geregelte Sitzen: Ihr choco chair schien zu schmelzen, der neon chair war zu zerbrechlich um draufzusitzen – und der maso chair machte durch seine folternd unbequeme Konstruktion deutlich, dass Sitzen immer auch Ausdruck eines Machtgefüges war: Jemand sagte dir, dass und wie du zu sitzen hast.
Genug des Verordneten
So war es kaum ein Zufall, dass an Krawallen an Konzerten insbesondere die Stühle der Zerstörung zum Opfer fielen, wie am Rolling Stones Konzert, das 1967 in Zürich stattfand. Doch vermutlich war alles ein Missverständnis: Toni Vescoli, der damals mit seiner Band «Les Sauterelles» als Vorband spielte, sagte in einem Interview mit Samuel Mumenthaler, man habe das Hallenstadion 1967 mitnichten zerstört, vielmehr habe man die Stühle etwas unsanft auf einen Haufen gelegt, weil man an Rockkonzerten nicht sitzen, sondern tanzen würde: Man mochte sich nicht mehr mit dem Raum begnügen, der einem verordnet wurde.
Literatur: Samuel Mumenthaler: BeatPopProtest. Der Sound der Schweizer Sixties. Lausanne 2001. Angelika Linke: Unordentlich, langhaarig und mit der Matratze auf dem Boden. Zur Protestsemiotik von Körper und Raum in den 1968er-Jahren. In: Heidrun Kämper, Joachim Scharloth, Joachim, Martin Wengeler (Hrsg.): 1968. Eine sprachwissenschaftliche Zwischenbilanz. Berlin 2012.
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