Wahlen in der Schweiz – Prognosen sagen: Rechts erstarkt, grün erlahmt
Das Schweizer Stimmvolk wählt am Sonntag ein neues Parlament für die nächste Legislatur. Während die SVP voraussichtlich erneut gewinnen wird, steuern die Grünen auf eine schwere Niederlage zu. Damit folgt auch die Eidgenossenschaft den politischen Trends in Europa.
Am Ende eines ungewöhnlich warmen Oktobers droht den Schweizer Umweltschützer:innen am Sonntag eine schwere Wahlniederlage. Die Umfragen sagen den Grünen einhellig einen deutlichen Verlust voraus. Nach ihrem Durchbruch bei den letzten eidgenössischen Wahlen könnte die Partei mit einem Minus von 3,5 Prozentpunkten sogar unter die Zehn-Prozent-Marke fallen. Gleichzeitig verliert auch die andere grüne Formation, die Grünliberale Partei (GLP).
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Sollte sich dieser Rückgang bestätigen, werden die Grünen wahrscheinlich ihre Ambitionen, einen Bundesratssitz zu erobern, aufgeben müssen. Die Partei will erst nach den Wahlen entscheiden, ob sie den Sitz des zurückgetretenen SP-Innenministers Alain Berset angreifen oder nicht.
Die grüne Welle von 2019 gehört endgültig der Vergangenheit an. Dieser Trend deckt sich mit jenem in der Europäischen Union. Nach ihrem Erfolg bei den letzten Europawahlen sind die Grünen auch in der EU auf dem absteigenden Ast: Laut Umfragen befinden sie sich in Frankreich und Deutschland im Fall und auch in den anderen Mitgliedsländern können sie sich nicht durchsetzen.
SVP wieder auf Erfolgskurs
Die rechtskonservative Partei, die vor vier Jahren noch auf der Verliererseite stand, verspürt in der Schweiz wieder Rückenwind. Die Schweizerische Volkspartei (SVP), stärkste politische Kraft im Land, steuert am Sonntag auf das zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte zu. Im aktuellen Wahlbarometer des Forschungsinstituts Sotomo kommt die Partei auf über 28% der Stimmen, wie die folgende Grafik zeigt.
Dieser Erfolg ist auch im europäischen Kontext zu sehen, wo die konservative Rechte auf dem Vormarsch ist und in verschiedenen Ländern Durchbrüche erzielt hat. Insbesondere gilt dies für Italien, wo Giorgia Meloni mit ihrer rechtspopulistischen Partei Fratelli d’Italia an die Macht kam.
Auch in Schweden hat ein Block aus Rechten und Rechtsradikalen die letzten Wahlen gewonnen. Jüngstes Beispiel ist Finnland, wo die populistische Bewegung der Wahren Finnen im April an die Regierung kam.
Das Rennen um Platz drei
Der Rechtsruck im Schweizer Parlament wird voraussichtlich moderat ausfallen. Einerseits wird dieser durch die wahrscheinlichen Gewinne der Sozialdemokratischen Partei (SP) von geschätzten 1,5 Prozentpunkten abgemildert, da die Linkspartei einen Grossteil der von den Grünen verlorenen Stimmen zurückgewinnen wird.
Andererseits dürfte der Rückgang der freisinnigen Partei (FDP/rechts) um einen Prozentpunkt das Wachstum des bürgerlichen Lagers bremsen.
Diejenigen Formationen, die die Wahlen 2019 verloren haben, dürften die Gewinner der Parlamentswahlen 2023 sein, stellen die Politologen des Sotomo-Instituts fest. Vor vier Jahren hatten die kleinen Parteien die Nase vorn. In diesem Jahr dürften die grossen Parteien wieder das Feld hinter sich lassen. Eine Ausnahme bildet die FDP, die laut Prognosen zum zweiten Mal in Folge Verluste wird hinnehmen müssen.
Das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der FDP und der Mitte, die in den letzten Umfragen fast gleichauf lagen, ist auch bei diesen Wahlen eine der grossen Herausforderungen.
Sollte die Mitte die FDP als drittstärkste politische Kraft ablösen, wäre dies eine historische Zäsur, was die Zusammensetzung des Bundesrates in Frage stellen könnte. Das Konkordanzprinzip sieht vor, dass die drei grössten Parteien des Landes zwei Sitze in der Regierung haben und die viertgrösste Partei nur einen.
Farbloser Wahlkampf
Der Wahlkampf verlief ohne grosse Höhepunkte. Die Parteien setzten auf ihre Lieblingsthemen und wagten sich nicht allzu weit aus dem Schatten des Gegners. Die Ankündigung eines massiven Kostenanstiegs in der obligatorischen Krankenversicherung am 26. September hat die Debatte um dieses Thema neu entfacht.
Laut verschiedenen Umfragen ist es sogar das Thema, das die Wahlen vom 22. Oktober am stärksten beeinflussen würde. Davon profitierte die SP, die ihren Wahlkampf auf die Kaufkraft konzentrierte.
Der zunehmende Migrationsdruck an den Grenzen Europas spielte hingegen der SVP in die Hände, die das Thema zu ihrem Verkaufsargument machte. Eine Strategie, die einmal mehr aufgegangen zu sein scheint, denn die Zuwanderung gehört laut Umfragen zu den Hauptsorgen der Schweizer:innen und hat auch einen wichtigen Einfluss auf die Wahlentscheidung.
Obwohl sich extreme Wetterereignisse häufen und die Klimaerwärmung weiterhin ganz oben auf der Sorgenliste der Bevölkerung steht, scheint es den Grünen nicht gelungen zu sein, daraus Kapital zu schlagen. «Das Thema mobilisiert die Wähler:innen weniger. Vielleicht fühlen sich die Leute vom Problem überfordert oder haben den Eindruck, dass die Schweiz nicht in der Lage ist, es zu lösen», meint Sotomo-Politologe Michael Hermann.
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Rekordzahl von Kandidaturen
Für die 200 Sitze im Nationalrat (grosse Kammer) und die meisten der 46 Sitze im Ständerat (kleine Kammer) wurden dieses Jahr so viele Kandidaturen wie noch nie eingereicht. 5’909 Personen (davon 41% Frauen) kandidieren für einen Sitz im Nationalrat, darunter 43 Auslandschweizer:innen.
Paradoxerweise wird mit einem Rückgang der Wahlbeteiligung gerechnet. Vor vier Jahren nahmen nur 45,1% der Schweizer Bevölkerung an den eidgenössischen Wahlen teil. «Diese Zahl dürfte dieses Jahr noch weiter sinken», sagte Michael Hermann bei der Präsentation des aktuellen Wahlbarometers. Er beruft sich dabei auf die Zahl der Personen, welche die Wahlen als sehr wichtig für die Zukunft des Landes erachten.
Die Ergebnisse der Nationalratswahlen, die nach dem Proporzsystem erfolgen, werden am späten Sonntagabend erwartet. Die Ständeratswahlen werden fast überall nach dem Majorzsystem durchgeführt. In den Kantonen, in denen eine Kandidatin oder ein Kandidat das absolute Mehr, also mehr als 50% der Stimmen, erreicht, werden die Resultate ebenfalls am Sonntag bekannt gegeben. Erreicht keiner der Kandidierenden die 50% Hürde, findet in jenen Kantonen im November ein zweiter Wahlgang statt.
Eine Ausnahme bilden die Kantone Neuenburg und Jura, die ihre Vertreter:innen nach dem Proporzsystem ohne zweiten Wahlgang wählen, während Appenzell-Innerrhoden und Obwalden ihren einzigen Ständerat (es sind beides Männer) bereits gewählt haben.
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Übertragung aus dem Französischen: Melanie Eichenberger
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