Wie die Schweizer Wissenschaft Manipulationen untersucht
Im April gab die renommierte Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETHZ) bekannt, sie habe gegen einen ihrer Professoren eine Untersuchung eingeleitet, nachdem Anschuldigungen wegen Manipulationen in Publikationen aufgetaucht waren. Akademisches Fehlverhalten ist nichts Neues, doch in der Schweiz gibt es erst seit Kurzem einen kohärenten Ansatz, solche Vorkommen zu untersuchen.
Bei dem Fall der ETHZ geht es um einen Biologieprofessor, dem im Online-Forum PubPeerExterner Link anonym vorgeworfen wurde, Illustrationen in Artikeln manipuliert zu haben, die er als Co-Autor publiziert hatte. Nach Angaben des französischen Nationalen Zentrums für Wissenschaftliche Forschung (CNRS), das einen Teil der Forschung finanziert hatte, geht es um etwa 30 Artikel.
Die ETHZ teilte am 9. April mit, sie habe eine UntersuchungskommissionExterner Link eingesetzt, um die seit Januar 2015 auf den Websites PubPeer und RetractionWatchExterner Link publizierten Anschuldigungen abzuklären. Bis die Untersuchung abgeschlossen sei, könne die ETHZ sich nicht zu dem Verfahren äussern, erklärte eine Sprecherin gegenüber swissinfo.ch. Zudem hat auch CNRS eine Untersuchungskommission eingeleitet.
Weltweites Problem
Falsifikation (Verfälschen, Anpassen oder Verzerren) und Fabrikation (Erfinden) von Daten sind zwei von vielen Formen eines Fehlverhaltens in der Forschung. Sie erstrecken sich vom Plagiat (Text einer anderen Person als seinen eigenen verwenden) über falsche Autorenschaft (sich Arbeit als Verdienst anrechnen, die man nicht selbst geleistet hat) bis hin zu nicht erklärten Interessenkonflikten – wie etwa die Tatsache, dass eine Studie von der Firma finanziert wird, die das Produkt verkauft, das erforscht wird.
Einige Schweizer Verfahren und Richtlinien
Die ETH Zürich hat eine VerfahrensordnungExterner Link für Verdachtsfälle auf Fehlverhalten in der Forschung, die aus dem Jahr 2004 stammt. Darin heisst es unter anderem, die «ETH Zürich geht von einer aufrichtigen, verantwortlichen und selbstkritischen Forschung ihrer Angehörigen aus» und «ist verpflichtet, jedem konkreten Verdacht auf Fehlverhalten in der Forschung nachzugehen.»
Im gleichen Sinne hat die Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne (EPFLExterner Link) eine Direktive zur Forschungsintegrität und guter wissenschaftlicher Praxis, welche die grundsätzlichen Prinzipien von Planung, Durchführung, Präsentation und Auswertung von Forschung definiert und für alle EPFL-Angehörigen gilt, die mit wissenschaftlicher Forschung zu tun haben, von Lehr- und Wissenschaftspersonal über Doktoranden, Studierende, Forschungsassistenten bis zu den Gästen.
Der Schweizerische Nationalfonds (SNF), eine Institution zur finanziellen Unterstützung der wissenschaftlichen Forschung, die 2013 einen Betrag von 819 Millionen Franken in die Schweizer Forschung investierte, hat ein ReglementExterner Link über den Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten von Gesuchstellenden und Beitragsempfängerinnen und -empfängern.
Bei einem der grössten Betrugsfälle beim wissenschaftlichen Publizieren in Europa ging es um einen deutschen Anästhesisten namens Joachim BoldtExterner Link. Nach einer langwierigen Untersuchung wurde Boldt als Professor am Klinikum Ludwigshafen gefeuert; 88 von 102 Artikel, die Boldt in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht hatte, wurden zurückgezogen. Boldts Datenfälschungen reichten offenbar bis ins Jahr 1999 zurück.
2009 kam eine Analyse von 21 veröffentlichten UmfragenExterner Link, die in einer Reihe von Ländern durchgeführt worden waren, zum Schluss, dass fast 2% der befragten Wissenschaftler zugaben, mindestens einmal im Verlauf ihrer Karriere Daten oder Resultate erfunden, verfälscht oder abgewandelt zu haben, 34% gestanden andere fragwürdige Praktiken bei der Forschung ein.
Wieso sollten Wissenschaftler das Risiko eingehen, ihre Karriere durch das Erfinden oder Fälschen von Forschungsarbeiten zu gefährden?
«Wie in jedem anderen Bereich menschlicher Tätigkeit – zum Beispiel im Sport, wo es das Doping gibt – wollen die Leute bei dem was sie tun, hervorragen», sagt die in Lausanne ansässige Redaktionsmanagerin Mirjam Curno. Viel ethisches Fehlverhalten sei eine Folge von Anreizen von Geldgebern, aber auch institutionellen Bewertungsausschüssen und Förderungskomitees, sagt Curno.
Die Forscher gerieten in Versuchung, sich in Fehlverhalten zu engagieren, weil sie «unter immensem Druck stehen, die Finanzierung zu sichern, aufgrund ihrer kurzfristigen Verträge, aufgrund von Zuschüssen, die auf regelmässiger Basis auslaufen, und weil sie im Wettbewerb stehen um eine Position mit fester Anstellung (Tenure), von denen es nicht eben viele gibt.»
Umgang mit Fehlverhalten
Ist Betrug beim wissenschaftlichen Publizieren in der Schweiz ein allgemein verbreitetes Problem?
«Nicht mehr als anderswo», erklärt Rechtsprofessor Kurt Seelmann, der die Kommission für wissenschaftliche Integrität des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) präsidiert. «Aber wie man sieht, ist es ein Problem. Es gibt viele verdächtige Fälle, denen wir nachgehen müssen.»
Betrug beim wissenschaftlichen Publizieren gibt es wahrscheinlich seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten. Aber erst in jüngster Zeit haben Schweizer Forschungsinstitutionen Richtlinien entwickelt, um Verdachtsfälle zu untersuchen.
«Vor 2009 hatten wir kein formelles Verfahren», sagt Susan Killias, Rechtsberaterin der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL). «Ich arbeite seit 2000 hier, und wir hatten nie davon gehört.»
Identifizieren von Betrug beim Publizieren
Viele Institutionen, wie die EPFL und der SNF haben auch in Computer-Software investiert, mit der Manuskripte und Zuschussanfragen auf Plagiate untersucht werden, indem Anfragen mit einer Datenbank bereits veröffentlichter Texte abgeglichen werden. «Mit all dem Material, das heute Online ist, und mit den Software-Programmen, die wir haben, sind Plagiate heute ziemlich einfach aufzuspüren», erklärt Mirjam Curno, Redaktions-Managerin beim Zeitschriftenverlag Frontiers in Lausanne. «Publikationen sind elektronisch erhältlich, sie werden von deutlich mehr Leuten abgerufen. Und man kann sogar damit beginnen, Programme laufen zu lassen, die nach Anomalien und statistisch unwahrscheinlichen Daten suchen.»
Die Kommission für wissenschaftliche Integrität des SNF wurde 2013 ins Leben gerufen.
«Natürlich gab es schon vorher wissenschaftliches Fehlverhalten, das auch untersucht wurde. Aber wir hatten schliesslich das Gefühl, dass wir einen systematischeren Ansatz brauchten, und dass dafür ein spezielles Komitee geschaffen werden sollte», sagt Seelmann.
Als das Bewusstsein für Fehlverhalten stieg, begannen Universitäten, wissenschaftliche Zeitschriften und Finanzierungsstellen weltweit damit, proaktiver zu werden.
«Wir sind der Ansicht, dass Strafe die eine Sache ist, aber der wichtigste Aspekt ist die Prävention», sagt Killias. «Wir publizieren regelmässig entsprechende Erinnerungen auf unserer Website, oder senden E-Mails an die Leute, um sie an ihre Pflichten zu erinnern.»
Seit 2009, als die EPFL erstmals ein formelles Verfahren für den Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten einführte, habe es an der Hochschule nur drei Fälle gegeben, in die Professoren verwickelt waren – von denen zwei nicht schlüssig waren – sowie drei oder vier Fälle, in die andere Personen verwickelt waren, sagt Killias. «Bedenkt man, dass wir jedes Jahr wahrscheinlich so gegen 2000 Artikel veröffentlichen, ist das praktisch nichts.»
Austausch von Informationen
Für eine Organisation, die einen potentiellen Fall von Fehlverhalten untersucht, kann es hilfreich sein, Unterstützung und Beratung zu haben. Das internationale Komitee für Publikations-EthikExterner Link, dem fast 10’000 Verleger und Zeitschriftenredaktoren als Mitglieder angehören, produziert Richtlinien, Diskussionsdokumente und Ablaufdiagramme und führt eine Datenbank mit ethischen Fällen, die zur Diskussion gebracht wurden.
«Viele Fragen, mit denen Redaktoren konfrontiert werden, müssen für weitere Untersuchungen an die Institutionen überwiesen werden», sagt Curno, die zum Leitungsgremium von COPE gehört. Als Hilfsmittel für die Redaktoren hat COPE Richtlinien entwickeltExterner Link für die Zusammenarbeit zwischen Forschungsinstitutionen und Zeitschriften für Fälle, bei denen es um die Integrität der Forschung geht.
Der Austausch von Information über wissenschaftliches Fehlverhalten ist in der Schweiz jedoch nicht immer einfach, teilweise wegen des föderalistischen Systems des Landes, erklärt Seelmann. «Aus der Perspektive des SNF ist es unproblematisch. Wir geben Informationen heraus und bitten um Informationen. Aber die einzelnen Universitäten, die zu einem grossen Teil kantonal sind, sind oft nicht autorisiert, uns Informationen zu geben.»
Wissenschaftliches Fehlverhalten gebe es leider überall, sagt Mirjam Curno. «Wichtig ist, dass Institutionen Verfahren haben, damit Bedenken rasch und fair untersucht werden können, und dass dies auch klar und deutlich kommuniziert wird.»
(*Jeannie Wurz war von 2009 bis 2012 Redaktorin des COPE-Newsletters «Ethical Editing»)
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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