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Zukunft des Homeoffice: Zwischen Prekariat und Unabhängigkeit

Una donna seduta alla scrivania di casa sua mentre lavora.
Nicht alle haben zu Hause einen passenden Arbeitsort. Keystone / Sascha Steinbach

Homeoffice hat sich durch die Pandemie weit verbreitet. Doch erst die Zukunft wird zeigen, ob sich dieses Arbeitsmodell – Arbeiten zu Hause – wirklich in der Gesellschaft verankert hat. Und welche Folgen es haben wird. Es lassen sich jedoch jetzt schon einige Hypothesen aufstellen.

Homeoffice, Home working, Smart working oder auch Telearbeit. Diese Begriffe gehören mittlerweile zum allgemeinen Sprachgebrauch und wurden in den letzten eineinhalb Jahren – in Pandemie-Zeiten – ständig verwendet. Von Mitte Januar 2021 bis zum 31. Mai 2021 galt gemäss Beschluss der Schweizer Regierung sogar eine Homeoffice-Pflicht. Es musste, wenn immer möglich, von zu Hause gearbeitet werden.

Die Telearbeit gibt es eigentlich schon seit Jahrzehnten, aber erst durch die Pandemie hat sie sich stark ausgebreitet. Tatsächlich ist dieses Arbeitsmodell aber schon lange Gegenstand von Untersuchungen der Arbeitssoziologie, wie Nicolas Pons-Vignon bestätigt. Er ist Professor für Arbeitswandel und soziale Innovation am Kompetenzzentrum Arbeit, Wohlfahrt und Gesellschaft des Departements Wirtschaft, Gesundheit und Soziales an der Fachhochschule der italienischen Schweiz (SUPSI).

Aus epidemiologischer Sicht und dem Abflauen der Fallzahlen erscheint das Homeoffice-Modell mittlerweile nicht mehr notwendig. Doch wird es sich gleichwohl durchsetzen? Laut einer Studie des international tätigen Forschungs- und Beratungsunternehmens GartnerExterner Link werden 90 Prozent der Personalchefs von weltweit befragten Unternehmen auch nach dem Ende des Coronavirus-Notstands zumindest teilweise die Arbeit aus dem eigenen Heim zulassen. 48 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden zumindest einen Teil ihrer Arbeitszeit aus dem Homeoffice bestreiten. In Dienstleistungsbereichen wie Kundenservice oder technischer/IT-Support werden sogar Spitzenwerte von mehr als 80 Prozent erreicht.

Die am stärksten betroffenen Branchen

Nach Angaben des Bundesamts für Statistik (BFS)Externer Link stieg die Zahl der Beschäftigten in der Schweiz, die im Homeoffice arbeiten, von 24,6 Prozent im Jahr 2019 auf 34,1 Prozent im Jahr 2020. Besonders stark praktiziert wurde die Heimarbeit in der Informations- und Kommunikationsbranche, wo sie 2019 von 58,4 Prozent der Beschäftigten (zumindest gelegentlich im Homeoffice) umgesetzt wurde, während der Anteil im Jahr 2020 sogar auf 76,3 Prozent anstieg.

Aber der Homeoffice-Boom zeigt sich auch in der Finanz- und Versicherungsbranche (der Anteil stieg von 34 auf 61,4 Prozent), in wissenschaftlichen und technischen Berufen (von 39,3 auf 54,7 Prozent) oder in der öffentlichen Verwaltung (von 22,4 auf 42 Prozent). Aus naheliegenden Gründen sind die Anteile der Telearbeit im Baugewerbe sowie im Gesundheitswesen, im Gastgewerbe und in der Hotellerie sehr niedrig geblieben.

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Die Gefahr des Prekariats

Angesichts der Pandemie hat sich für viele Berufstätige das Homeoffice als einzige praktikable Option erwiesen. Um jedoch zu verstehen, ob diese Praxis auch in Zukunft beibehalten wird und wie sie sich entwickeln wird, müssen eine Reihe von Aspekten berücksichtig werden. Diese hängen von den jeweiligen Unternehmen, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ab, aber auch von den jeweiligen Rahmenbedingungen und Umständen.

«Wenn Arbeitgeber davon sprechen, dass den Arbeitnehmern mehr ‹Flexibilität› angeboten beziehungsweise abverlangt wird, bedeutet dies oft auch eine erhöhte Verletzlichkeit des Arbeitnehmers selbst», sagt Professor Nicolas Pons-Vignon. Und fügt an: «Wir sollten daher zwischen Flexibilität in der Arbeitsorganisation (z.B. Homeoffice) und derjenigen, die die Vertragsbedingungen betrifft, unterscheiden. Wenn ein Job in Telearbeit verrichtet werden kann, können damit eine Reihe von Vorteilen verbunden sein. Aber diese Vorteile sind möglicherweise nur scheinbar, wenn ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin keine Autonomie, keine Arbeitsplatzsicherheit oder auch nicht die notwendigen Bedingungen für die Arbeit zu Hause hat.»

Una mamma lavora al computer con i suoi due bimbi davanti a lei sul letto.
Nicht jede Art von Arbeit kann von zu Hause aus erledigt werden. Keystone / Mahmoud Khaled

Tatsächlich könne die Ausbreitung von Telearbeit auch zu einer Zunahme des Prekariats führen, meint der Professor. «Ein Arbeitgeber oder eine Arbeitgeberin kann sich sagen: ‹Wenn eine Arbeit von zu Hause aus erledigt werden kann, brauche ich keinen Angestellten zu beschäftigen und diesen keine Sozialbeiträge und Versicherungen zu zahlen. Ich kann die gleiche Arbeit auch von Externen erledigen lassen, die nach Stunden bezahlt werden›. Diese Auslagerung von Jobs mag für diejenigen attraktiv sein, die davon träumen, ein eigenes Unternehmen zu gründen, aber für die Arbeitnehmer bedeutet es mehr Unsicherheit», so Pons-Vignon.

Diese Gefahr verschärft sich in Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit oder einer ohnehin kritischen sozialen Situation. Die Qualität der Homeoffice-Arbeit hängt somit sehr stark von den Vertragsbedingungen der Arbeitnehmer ab. Die Zukunft wird wahrscheinlich hybrid und heterogen sein. SUPSI-Professor Pons-Vignon sieht drei mögliche Szenarien:

  • Alle zurück ins Büro: Für diese Variante spricht aus Sicht der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber die Befürchtung, dass die Angestellten nicht «produktiv» genug sind, wenn sie zu Hause arbeiten. Als Defizit der Telearbeit wird zudem der mangelnde Lerneffekt am Arbeitsplatz durch den Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen gesehen.
  • Wenn immer möglich, bleiben alle Mitarbeitende im Homeoffice: Diese Option könnte für beide Seiten grosse Vorteile bringen, wenn die Arbeit effizient geleistet wird. Das gilt insbesondere für Städte wie Zürich oder London, wo Unternehmen viel Geld für Büros ausgeben. Es gibt somit für die Unternehmen ein grosses Sparpotential.   
  • Das Hybrid-System: Die Präsenz am Arbeitsplatz und die Heimarbeit wechseln sich ab. Damit dieses Modell funktioniert, muss klar sein, wofür jeder Platz wichtig und effizient ist – etwa der informelle Austausch unter Kollegen, fachlicher Austausch und die Entwicklung von Kreativität. Abzuwägen sind auch andere Vor- und Nachteile. So können Besprechungen, die in Anwesenheit stattfinden, im Vergleich zu Online-Sitzungen häufig lange dauern und ausufern.

Homeoffice eröffnet neue Möglichkeiten: Eine Reihe von Ländern hat Gesetze erlassen, um Arbeitnehmenden eine Niederlassung und ein attraktives Steuerdomizil zu ermöglichen, wenn sie für ein Unternehmen im Ausland tätig sind. Dafür werden sogar Anreize geschaffen.

Italien hat beispielsweise ab 2020 den Prozentsatz des steuerfreien Einkommens für die sogenannten «Remote Workers» erhöht (von 50 auf 70 Prozent). Davon können Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer profitieren, die ihren Steuersitz nach Italien verlegen. Diese bevorzugte Besteuerung wird maximal fünf Jahre gewährt und der Steuerfreibetrag kann sogar 90 Prozent erreichen, wenn sich diese Personen im Süden des Landes oder einer Insel (wie Sardinien) niederlassen.

Auch Griechenland hat diesen Weg eingeschlagen. Das Land hat die Halbierung der Steuern für Personen angekündigt, die im Laufe des Jahres 2021 dorthin ziehen werden. Das Hauptziel ist es, einige der 800’000 Griechen, die ihre Heimat während des Krisen-Jahrzehnts (2009-2019) verlassen haben, «nach Hause zu holen». Es sind Mechanismen vorgesehen, um Missbräuche zu vermeiden.

Spanien verfolgt das gleiche Ziel, hat aber eine andere Methode beschlossen. Auch dort will man neue Bewohner mit einem «non-lucrative residence visa» anlocken: ein Visum für Nicht-EU-Bürger, um sich in Spanien aufzuhalten, dort aber keiner Erwerbstätigkeit nachgehen.

Wer Europa verlassen will und noch wärmere Länder als im Mittelmeerraum sucht, kann in Costa Rica problemlos eine Aufenthaltsberechtigung beantragen, wenn die Person ein Einkommen von mindestens 2’500 Dollar pro Monat vorweisen kann. Auch hier wird vorausgesetzt, dass diese Person keiner Erwerbstätigkeit in dem mittelamerikanischen Staat nachgeht. Antigua und Barbuda sowie Barbados erteilen Aufenthaltsgenehmigungen an Personen, die über ein Einkommen von mindestens 50’000 Dollar pro Jahr (zirka. 46’000 Franken) verfügen.

Viele Kantone in der Schweiz praktizieren die Pauschalbesteuerung für reiche Ausländerinnen und Ausländer. Diese sieht vor, dass ausländische Staatsangehörige, die in der SchweizExterner Link Wohnsitz haben, aber dort nicht erwerbstätig sind, auf der Grundlage ihres (Lebens-)Aufwands besteuert werden können, statt wie alle anderen Steuerpflichtigen auf der Grundlage ihres Einkommens und Vermögens. Dieses Steuerinstrument ist aber umstritten. So haben etwa die Stimmberechtigten des Kantons Zürich die Pauschalbesteuerung in einer Volksabstimmung abgeschafft.

«Das Problem ist, dass die Arbeitswelt keine demokratische Welt ist», bilanziert Pons-Vignon, «und wenn es zu grösseren Veränderungen kommt, werden die Entscheidungen meistens von den Arbeitsgebern getroffen. Dies gilt auch für allfällige Gesetzesänderungen.»

«Wie eingangs erwähnt, gibt es viele Aspekte zu berücksichtigen: Die Art der Arbeit und die Einstellung der Arbeitnehmenden spielen eine Rolle, aber auch die Gesprächsqualität zwischen Angestellten und Managern. Schliesslich ist die Bereitschaft der Arbeitgeber, auf die Bedürfnisse der Arbeitnehmenden einzugehen, sehr wichtig.»    

Diverse Studien und Prognosen gehen davon aus, dass Homeoffice als «flexible Arbeitsform» in Zukunft eine wichtigere Rolle spielen wird als bisher. Eine gewisse Revolution in der Art und Weise, wie Beschäftigung und Arbeit gesehen wird, hat bereits stattgefunden. Um weitergehende Schlüsse zu ziehen, braucht es aber noch einige Zeit und zusätzliche Erfahrungen.

Unter dem Begriff Homeoffice wird jene Arbeit verstanden, die Arbeitnehmende ganz oder teilweise, regelmässig oder unregelmässig von zu Hause aus verrichten. Dabei ist der häusliche Arbeitsplatz normalerweise mit dem betrieblichen Arbeitsplatz durch elektronische Kommunikationsmittel verbunden (Definition des SECO, Direktion für Arbeit).

Broschüre des SECO, Staatssekretariat für Wirtschaft, zum Homeoffice: seco_broschuere_homeoffice_de.pdf

Gerhard Lob

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