Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

«Nicht jede Idee muss zu einem Film werden»

Seraina Rohrer ist seit 2011 Direktorin der Solothurner Filmtage. Keystone

Die Direktorin der Solothurner Filmtage, Seraina Rohrer, ist überzeugt, dass der Schweizer Film selektiver sein sollte und gleichzeitig Talente stärker gefördert werden sollten. Im Interview mit swissinfo.ch verteidigt die energische und engagierte Festivalleiterin eine offene Schweiz, genauso wie ein Filmschaffen, das sich der Welt gegenüber öffnet.

swissinfo.ch: Die Solothurner Filmtage stellen ein Schaufenster für den Schweizer Film dar. Und sie sind zugleich ein Spiegel der Gesellschaft. Was sagt die diesjährige Ausgabe über den Zustand unseres Landes und der Welt? 

Seraina Rohrer

Seraina Rohrer (39) wuchs im Kanton Zürich auf. Sie studierte Filmwissenschaft und Publizistik an der Universität Zürich. Mehrere Jahre war sie für ihre Doktorarbeit viel auf Reisen, vor allem in Mexiko und den USA. Sie verfasste eine Dissertation zum Thema «Transnationale Low-Budget-Produktionen».

Sie leitete mehrere Jahre das Pressebüro des Filmfestivals von Locarno und koordinierte die Lancierung des nationalen Pilotprojekts «Réseau Cinéma CH», eine Kooperation der Schweizer Fachhochschulen und Universitäten im Bereich Filmausbildung

Als Nachfolgerin von Ivo Kummer ist sie seit August 2011 als Direktorin verantwortlich für Programm und Organisation der Solothurner FilmtageExterner Link. Mit Rohrer war erstmals eine Frau in diese verantwortungsvolle Position berufen worden.

Seraina Rohrer: Tatsächlich sind die Filme, die wir in Solothurn zeigen, eine Art Spiegel unserer Gesellschaft. Aber sie gehen noch darüber hinaus, weil sie auch den Finger in die Wunden dieser Gesellschaft legen, und Themen anpacken, die häufig ignoriert werden.   

Der rote Faden dieser Festivalausgabe besteht im «Überschreiten von Grenzen». Schweizer Regisseure werfen also den Blick auf das, was «jenseits» der Grenzen liegt. Es erinnert uns daran, dass die Schweiz nicht an ihren Grenzen aufhört. Die Kraft dieser Filmemacher besteht in ihrer Fähigkeit, die Welt zu beobachten und zu analysieren. Das ist ganz wichtig in einer Zeit, in der viele nicht weiter als bis zu ihrer Nasenspitze schauen.

Die Filme zeigen eine Welt, die sich wandelt und von Spannungen gekennzeichnet ist. Sie zeigen Menschen, die auf der Suche sind, um dem Ganzen eine Bedeutung abzugewinnen, was natürlich auch für die Regisseure selbst gilt.

swissinfo.ch: Dieses Interesse für die Vorgänge ausserhalb der Landesgrenzen ist nicht ganz neu für den Schweizer Film. Dieses Jahr zeigt die Sektion «Histoires du cinéma suisse» eine Auswahl von Schweizer Filmen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts just unter dem Titel «Reisen ins Landesäussere». 

S.R.: Dieses Interesse gehört tatsächlich zur DNA des Schweizer Films. Bereits in den 1930er-Jahren sind einige Regisseure nach Afrika oder in den Himalaya gereist. Doch der Ansatz hat sich verändert. Heute sind die Filmemacher vom Verlangen geprägt, die Welt zu verstehen. Zwischen 1930 und 1950 begaben sich die Filmemacher auf die Suche nach dem Exotischen, sozusagen nach dem Motto «Wir und die anderen». Die Schweiz stellt heute einen neutralen Standort dar, um die Welt zu verstehen. Sie wird nicht als Modell gesehen, mit dem sich andere Länder vergleichen müssen.

swissinfo.ch: Viele der Filmschaffenden in der Schweiz sind Migranten der zweiten oder dritten Generation. Wie wirkt sich dies auf den Schweizer Film aus?

S.R.: Die Schweiz ist schon immer ein Einwandererland gewesen und verdankt dieser Entwicklung ihren Wohlstand. Ich finde es beschämend, wenn Regisseure wie Mano Khalil, Andrea Staka oder Esen Isik als «Ausländer» bezeichnet werden, weil sie im Ausland geboren wurden und keinen Schweizer Pass besitzen. Denn auf der internationalen Bühne sind sie unsere Stars; und sie haben im Schweizer Filmschaffen tiefe Spuren hinterlassen. Für mich handelt es sich um Schweizer Regisseure und Schweizer Filme. Angesichts dieser Prämisse steht ausser Frage, dass sie das Schweizer Filmschaffen, seine Eigenart und Öffnung zur Welt, stark beeinflusst haben. Die Entstehung eines Films ist häufig an die eigenen Lebenserfahrungen gebunden. Es wird erzählt, was man kennt.

swissinfo.ch: Von zehn Filmen im Wettbewerb sind acht Dokumentarfilme und nur zwei Spielfilme. Ist dies Ausdruck des starken Dokumentarfilmschaffens in der Schweiz oder umgekehrt Ausdruck der Schwäche des Spielfilms?

S.R.: Dies bezeugt eindeutig den grossen Wert der Dokumentarfilme, welche die Stärke des Schweizer Filmschaffens ausmachen. Filme aus dem Vorjahr wie «Raving IranExterner Link» von Susanne Regina Meures oder «Europa she lovesExterner Link» von Jan Gassmann sind auf der ganzen Welt gezeigt worden. Allerdings möchte ich anmerken, dass der Wettbewerb gesellschaftliche Fragen in den Mittelpunkt stellt. Insofern findet der Dokumentarfilme dort leichter einen Platz als ein Spielfilm.

Externer Inhalt

swissinfo.ch: Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen haben Schweizer Filme Mühe, sich im Ausland durchzusetzen. Welche Verbesserungsmöglichkeiten gibt es?

S.R.: Hervorragende Filme haben keine Schwierigkeiten, auch im Ausland ein Publikum zu finden. Sie laufen an Filmfestivals und erhalten häufig viel Anerkennung und Preise. Das Problem ist, dass sie nicht in die Kinosäle gelangen oder nur für kurze Zeit. Seit die Schweiz aus dem Filmprogramm MEDIA (Inzwischen «Creative Europe») der Europäischen Kommission ausgeschlossen wurde, ist es für Schweizer Filme noch schwieriger geworden, ein Stück vom europäischen Filmkuchen abzuschneiden. Es ist unbedingt nötig, wieder in dieses Netzwerk integriert zu sein.

swissinfo.ch:  Die Solothurner Filmtage widmen dieses Jahr einen Tag dem Thema Filmbildung. Im Gegensatz zu den Ländern der EU hat die Schweiz die Frage der Filmbildung für Junge noch nicht institutionalisiert. Ist das wirklich nötig?

S.R.: Unbedingt. Viele junge Menschen können ein Gedicht interpretieren, verfügen aber nicht über die nötigen Instrumente, um einen Film zu analysieren, um zu verstehen, was sich hinter einem bestimmten Bild oder Ton verbirgt. Die Schweiz ist in dieser Hinsicht im Hintertreffen und müsste mehr machen.

Bei diesem Thema geht es auch um Demokratie. Denn die Mehrheit der jungen Menschen nutzt beziehungsweise konsumiert audiovisuelle Medien, von den Smartphones bis zu den Videoclips im Fernsehen. Und doch werden sie nicht für einen kritischen Konsum dieser Medien sensibilisiert. Sie konsumieren einfach – ohne sich Fragen nach der Herkunft zu stellen.

Es besteht die Gefahr, dass eine Gesellschaft ohne kritischen Geist entsteht, und das ausgerechnet in einem Land, in dem die Bürger ständig an der Urne abstimmen müssen. Diese Erziehung ist auch nötig, da die traditionellen Medien immer weniger Einfluss haben und Nachrichten vermehrt über Internet konsumiert werden.

swissinfo.ch: Die Solothurner Filmtage legten in den letzten Jahren grossen Wert auf die jüngere Generation. Haben Sie eine Botschaft für Nachwuchsregisseure?

S.R.: Um Filme zu verwirklichen, muss man kämpfen. Das gilt für jüngere, aber auch weniger junge Regisseure. Man darf nach einer Enttäuschung, einem abgelehnten Finanzierungsgesuch, nicht gleich den Bettel hinschmeissen. Das ist Teil des Filmbusiness. Und damit muss man leben.

swissinfo.ch:  Gibt es vielleicht für den kleinen Schweizer Filmmarkt zu viele Regisseure?

S.R.: Diesen Eindruck habe ich nicht. Viele arbeiten ja in der Werbung oder im Fernsehen. Für mich ist eine andere Frage wichtiger: Sind wir sicher, dass alle Filme wirklich realisiert werden müssen? Persönlich bin ich überzeugt, dass es sich nicht lohnt, aus jeder Idee einen Film zu machen, auch wenn das eine Reihe von Personen enttäuscht. Doch so wäre es möglich, mehr Aufmerksamkeit für Schweizer Filme zu schaffen und vielleicht die Präsenz in den Kinos zu erhöhen.

swissinfo.ch: Kommen wir am Schluss auf das Programm der diesjährigen Ausgabe: Welcher Film ist für Sie eine Liebe auf den ersten Blick gewesen?

S.R.: Mit Sicherheit der Eröffnungsfilm «Die göttliche Ordnung». Petra Volpe ist eine sehr talentierte Regisseurin. Sie erzählt in diesem Film mit einer gewissen Leichtigkeit vom Kampf für die Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz. Ein wirklich gelungener Film.

Externer Inhalt

Solothurner Filmtage 2017

Die 52. Solothurner Filmtage finden vom 19. bis 26. Januar 2017 statt. Zehn Dokumentar- und Spielfilme laufen im Wettbewerb für den Hauptpreis «Prix de Soleure».

  • «ALMOST THERE» von Jacqueline Zünd (Dokumentarfilm)
  • «CAHIER AFRICAIN» von Heidi Specogna (Dokumentarfilm)
  • «DIE GÖTTLICHE ORDNUNG» von Petra Volpe (Spielfilm)
  • «DOUBLE PEINE» von Léa Pool (Dokumentarfilm)
  • «I AM TRULY A DROP OF SUN ON EARTH» von Elene Naveriani (Spielfilm)
  • «IMPASSE» von Elise Shubs (Dokumentarfilm)  
  • «LA VALLÉE DU SEL» von Christophe M. Saber (Dokumentarfilm) 
  • «MIRR» von Mehdi Sahebi (Dokumentarfilm)  
  • «RUE DE BLAMAGE» von Aldo Gugolz (Dokumentarfilm) 
  • «WEG VOM FENSTER – Leben nach dem Burnout» von Sören Senn (Dokumentarfilm)

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft