Alain Tanner kehrt auf die Piazza in Locarno zurück
Alain Tanner erhält am diesjährigen Filmfestival von Locarno einen Ehrenleoparden. swissinfo sprach mit dem Filmkritiker Mariano Morace über das Filmschaffen des Schweizer Altmeisters.
«Ich freue mich, in Locarno diesen renommierten Preis in Empfang zu nehmen», sagte Alain Tanner, nachdem bekannt wurde, dass er mit einem Swisscom Ehrenleoparden ausgezeichnet wird. Das Filmfestival in Locarno liege ihm persönlich auch sehr am Herzen.
«Alain Tanners Filme sind kritische Zeitzeugnisse und wagen sich auch in die Domänen des Traums, der Poesie, des Verlangens und der Revolte», begründete Olivier Père, der künstlerische Leiter des Festivals, die Wahl des Preisträgers.
Die von Utopien und imaginären oder realen Reisen geprägten Filme Tanners gehören laut Père zu den weltweit schönsten des «nouveaux cinémas» und haben mehrere Zuschauergenerationen stark beeinflusst.
Kick für Schweizer Filmschaffen
«Alain Tanner kann in jeder Hinsicht als einer der Väter des neuen Schweizer Films bezeichnet werden», sagt der Tessiner Filmkritiker Mariano Morace, der die Hommage an den Genfer Regisseur sehr begrüsst.
Er findet es nur ein bisschen schade, dass die Auszeichnung in Locarno nicht bereits vor einem Jahr erfolgte. «Da hätte man ein zweifaches Jubiläum feiern können; Tanners 80. Geburtstag sowie das 40. Jubiläum des Goldenen Leopoarden mit dem Film ‹Charles mort ou vif'», so Morace.
Die Gruppe 5 (Groupe 5), die Alain Tanner 1968 zusammen mit den Filmemachernn Claude Goretta, Jean-Louis Roy, Michel Soutter und Jean-Jacques Lagrange gründete, habe eine neue Epoche im Schweizer Filmschaffen eingeläutet, so Morace.
«Diese Gruppe hat eine starke Beziehung zum Fernsehen aufgebaut. Das war wegweisend, denn der Schweizer Film würde nicht ohne das Schweizer Fernsehen existieren wie auch umgekehrt,» so Morace.
Ein junger Mann von 81 Jahren
Darüber hinaus bezeichnet Morace Alain Tanner als eine der Schlüsselfiguren, welche die Reflexion über das eigene Land durch das Mittel des Films vorangetrieben haben: «Er hat nicht einfach Dokumentarfilme produziert, sondern mit dem Blick eines Autoren eine Interpretation vorgenommen.»
Die letzten Arbeiten des Regisseurs strahlen laut Morace zwar eine gewisse Müdigkeit im Sinne einer Enttäuschung und Desillusion aus. «Tanner hat Distanz zu vielen Dingen genommen, aber die Lust an der Filmproduktion aus seinen Anfangsjahren behalten», so Morace.
Man könne ihn deshalb durchaus als «jungen Mannes von 81 Jahren» bezeichnen.
«Wie ein Faustschlag in den Magen»
«Es gibt den Aspekt der Utopie, der durch all seine sozialen und historischen Analysen der Schweizer Realität schimmert», charakterisiert Morace Tanners Filmschaffen.
Kennzeichnend dafür sind für Morace etwa die Filme «Jonas, qui aura 25 ans en l’an 2000», «Les Années Lumière» und «Charles mort ou vif».
Hat er einen Lieblingsfilm? «‹Charles mort ou vif›, durch den man den Regisseur entdecken konnte, dann ‹Jonas, «Jonas, qui aura 25 ans en l’an 2000› wegen seiner ironischen und utopischen Elemente. Und schliesslich ‹Une flamme dans mon coeur›, der wie ein Faustschlag in den Magen ist, wie ein schamloses Bekenntnis», so Morace.
In Locarno zu Hause
Für den auch in Frankreich und Italien gefeierten Regisseur hatte Locarno stets eine besondere Bedeutung. 1969 gewann er am Fimfestival Locarno den Goldenen Leoparden. «Locarno ist auch ein Zuhause für Tanner, weil hier seine grosse Karriere begonnen hat», so Morace.
«Tanner war stets grosszügig, und die Interviews waren ihm nie eine Last. Es gefiel ihm, über die eigene Arbeit zu sprechen, auch nachts noch im Grand Hotel nach den Abendaufführungen auf der Piazza Grande», erinnert sich Morace.
Françoise Gehring, Locarno, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
Der 1929 in Genf geborene Alain Tanner drehte neben zahlreichen Dokumentarfilmen für Fernsehen und Kino 19 Spielfilme, die an den bedeutendsten internationalen Filmfestivals zu sehen waren.
Mit «Charles mort ou vif» gewann er 1969 in Locarno den Goldenen Leoparden. Zwei Jahre später schrieb er mit «La Salamandre» Filmgeschichte. Allein in Paris sahen mehr als 200’000 Personen diesen Film.
Viel Anerkennung fanden auch «Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000» (1976), «Les années lumière» (1981, Grand Prix der Jury in Cannes), «Fourbi» (1996) und «Paul sen va» (2004).
Mit dem Ehrenleoparden ausgezeichnet wurden bisher unter anderen Manoel de Oliveira, Ken Loach, Ermanno Olmi, Abbas Kiarostami, Wim Wenders, Aleksandr Sokurov, Hou Hsiao-hsien, Amos Gitai sowie William Friedkin.
Nach Jean-Luc Godard (1995) und Daniel Schmid (1999) ist Alain Tanner der dritte Schweizer Regisseur, der diesen Preis erhält.
Die Preisverleihung findet am 11. August statt.
Das 63. Filmfestival von Locarno dauert vom 4. bis 14. August 2010.
In diesem Jahr werden 290 Filme gezeigt, statt 400 Filme wie im Vorjahr. Welt-Vorpremieren wird es 50 geben (das gab es noch nie in Locarno!) und rund 20 Erstlinge.
Im internationalen Wettbewerb werden 18 Filme aus der ganzen Welt gezeigt. Um den Goldenen Leoparden bewerben sich auch zwei Schweizer Filme.
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