Alejandro Jodorowsky: Der letzte Surrealist lockt auf den Monte Verità
Der bekannte Schriftsteller, Filmemacher und Tarot-Meister Alejandro Jodorowsky war vor kurzem Ehrengast der 11. Ausgabe der Eventi Letterari auf dem Monte Verità von Ascona. Im Interview spricht er über sei Werk, Tarot und Schweizer:innen, die am Rotlicht halten.
Der Monte Verità erscheint als die perfekte Location, um Alejandro Jodorowsky zu treffen. An diesem Ort lebten zu Beginn des 20. Jahrhunderts Künstler:innen, Schriftsteller:innen und Denker:innen aus ganz Europa und bildeten eine naturalistische, vegetarische und pazifistische Gemeinschaft.
Die Aura von damals ist in der üppigen Gartenanlage, einigen historischen Holzhäusern und dem Hauptgebäude erhalten geblieben – einem Hotel im Bauhaus-Stil aus dem Jahr 1929, das kürzlich renoviert wurde.
Der Monte Verità von damals hat jedoch nichts mit der Schweiz zu tun, die der chilenisch-französische Künstler Jodorowsky kennengelernt hat: «Es ist ein schönes Land, aber meiner Meinung nach haben die Schweizer:innen ein Problem mit der Realität, auch wenn ich Gefahr laufe, falsch zu liegen. Ich möchte keine Kritik üben, aber es ist nun mal so, dass jeder Ort seine Eigenheiten hat.»
Die Schweiz sei nicht der Ort, um ‹el amor loco› (verrückte Liebe), künstlerischen Wahnsinn oder Träume zu leben. «Hier gibt es kein Ambiente für Surrealismus», so Jodorowsky.
«Das Problem der Schweizer:innen ist, dass sie die Last der wirtschaftlichen Realität tragen. Um überhaupt etwas aufzubauen, brauchen sie ein gewisses Mass an perfekter Sicherheit. Aber das Leben besteht nicht aus perfekter Sicherheit. Das Leben besteht aus Risiken, die wir eingehen», sagt Jodorowsky weiter.
Mit der Einladung an den chilenisch-französischen Künstler sind die Organisatoren der Eventi Letterari von AsconaExterner Link eine sichere Wette eingegangen. Der Künstler zog am letzten Tag des Literaturfestivals, das vom 30. März bis 2. April dauerte, ein Publikum von mehreren hundert Personen an – weit mehr als erwartet. Besonders bemerkenswert: Der älteste Gast des Festivals (Jodorowsky mit 94 Jahren) lockte das jüngste Publikum an. An den anderen Vorträgen dominierte eine ältere Zuhörerschaft.
Generationsübergreifende Fangemeinde
Die Jodorowsky-Fangemeinde hat viele Facetten, wie der Künstler selbst. Seine «empörenden Filme» aus den 1970er-Jahren, wie der psychedelisch-esoterisch-barbarische Western El Topo (1970) und The Holy Mountain (1973), wurden zu Kultfilmen für Arthouse-Zuschauer:innen und Vertreter:innen einer Gegenkultur.
Sein misslungener Versuch, den Science-Fiction-Klassiker Dune (Der Wüstenplanet) von Frank Herbert zu verfilmen, wurde Stoff für einen beliebten und einflussreichen Dokumentarfilm. Die von Jean Giraud alias Moebius (1938-2012) und H.R. Giger (1940-2014) gezeichneten Entwürfe für die Dune-Verfilmung wurden zu Vorlagen für viele andere Science-Fiction-Klassiker (Star Wars, Alien).
Darüber hinaus wurden sie zu einem Bezugspunkt für weitere Produktionen, die es schliesslich auf die grosse Kinoleinwand schafften (etwa die Dune-Erstverfilmung von David Lynch im Jahr 1984; und von Denis Villeneuve im Jahr 2021).
Als Comicautor verfasste er zusammen mit Moebius eine der einflussreichsten Graphic Novels aller Zeiten – die in den 1980er-Jahren erschienene Serie «The Incal». Er arbeitete dabei mit anderen bedeutenden Comiczeichnern zusammen, etwa dem Italiener Milo Manara.
Jodorowsky ist schliesslich auch der Schöpfer der «Psychomagie», einer therapeutischen Praxis, die er selbst als «Heilungsweg mit der Kraft der Träume, des Theaters, der Poesie und des Schamanismus» beschreibt. Das Unterbewusste, ein sehr wichtiges Element des Surrealismus und ähnlicher Strömungen, spielt in allen Aktivitäten, Worten und Werken Jodorowskys eine wichtige Rolle.
Was einen Grossteil seines Publikums auf Asconas Berg der Wahrheit lockte, war wohl seine Arbeit an der Restaurierung des uralten Tarot-Decks (Tarot de Marseille), zusammen mit der meistverkauften Einführung in das Kartenorakel («The Way of Tarot», als Ko-Autor gemeinsam mit Marianne Costa und 2004 erstmals publiziert).
Jodorowskys Instagram-Account zählt 317’000 Follower – nicht schlecht für einen 94-jährigen Influencer. Unter den Autogrammjäger:innen direkt nach seinem Vortrag auf dem Monte Verità waren die Tarot-Kenner:innen und Psychomagie-Adepten eindeutig in der Überzahl gegenüber den Filmfreund:innen und Comic-Fans.
Ampeln, Realität und die Schweizer
«Ich habe in der Schweiz angefangen, Tarot zu lehren», sagte Jodorowsky vor seinem öffentlichen Vortrag im Gespräch mit swissinfo.ch. «Eine Person hatte mich gebeten, diese Spielkarten einer Gruppe zu präsentieren, und seither habe ich nicht mehr damit aufgehört».
Jodorowsky entschuldigte sich für sein schlechtes Gehör, als swissinfo.ch ihn wiederholt nach Details zu diesen öffentlichen Tarot-Präsentationen fragte. Er überging die Fragen einfach und liess seinen Gedanken in einer Mischung aus Französisch und Spanisch freien Lauf. Dabei gab er auch seine Eindrücke von der Schweiz preis.
«Als ich das erste Mal in die Schweiz fuhr, kam ich aus Neapel, wo niemand die Ampeln respektiert, während in der Schweiz die Autofahrer:innen an der roten Ampel anhalten, auch wenn absolut kein Fahrzeug entgegenkommt. Das bedeutet für mich, dass die Schweizer die Realität nicht akzeptieren, denn die Realität ist für die Schweizer zu gefährlich. Sie ziehen es vor, den Regeln des Gesetzes zu folgen.»
Seine Eindrücke streifen die üblichen Klischees über die Schweiz. Er erinnert an die Vorgänger des Surrealismus in Zürich, welche begonnen hatten, das Establishments herauszufordern und die Bourgeoisie zu schockieren, namentlich an die Dadaisten, die 1916 das Cabaret Voltaire in Beschlag nahmen.
Dabei ruft Jodorowsky in Erinnerung, dass praktisch alle dort versammelten Kunstschaffende Ausländer:innen beziehungsweise Emigrant:innen waren (aus Deutschland, Frankreich, Österreich, Rumänienusw.), die während des Ersten Weltkriegs in die neutrale Schweiz geflüchtet waren.
Das Unterbewusste
Mindestens ein namhafter Schweizer ist den Surrealist:innen und damit auch Jodorowsky sehr wichtig: Carl Gustav Jung, einer der Gründerväter der modernen Psychologie. «Ich liebte Jung genauso wie Freud», sagt Jodorowsky.
«Beide machten einen entscheidenden Schritt ins Unterbewusste, ins ‹Verdorbene›. Für Freud ist das Unterbewusste im eigenen Kopf, für Jung ist das Unterbewusste etwas Kollektives. Jung öffnete der Psychologie die Pforten der Spiritualität, und im Laufe seiner Karriere machte er einen wichtigen Schritt nach dem anderen, aber der entscheidende Schritt blieb ihm verwehrt.»
Welcher Schritt wäre das? «Er entdeckte die Grundlage der Synchronizität, die sich ereignet, ohne dass wir wissen, warum. Allerdings konnte er seine Idee der Synchronizität nicht weiterentwickeln, weil er sich selbst als Wissenschaftler betrachtete. Deshalb kann man sich als Künstler:in auch nicht von Jung leiten lassen.»
Tarot und Synchronizität
Diese fehlgeleitete Wissenschaftlichkeit, so Jodorowsky, betrifft auch Jungs Studium des Tarots. «Der Tarot ist keine Wissenschaft. Der Tarot ist all das, was Jung nicht zu wagen wagte. Als er mit dem Tarot in Berührung kam, sträubte er sich – als ob er vor einer roten Ampel stünde.»
«Es gibt nur einen Tarot, den Tarot de Marseille», betont er. «Die anderen sind einzig Nachahmungen, die nicht den symbolischen, mystischen und magischen Gehalt des ursprünglichen und anonymen Tarots besitzen.»
Jodorowsky verweist auf die unzähligen Tarot-Decks, die von verschiedenen Künstler:innen und Mystiker:innen gestaltet wurden, wie etwa die beliebten Tarot-Decks von Aleister Crowley und das Rider Tarot (von Arthur E. Waite und Pamela C. Smith). «Mystische Dinge müssen anonym sein; sobald sie den Namen von Personen annehmen, verwandeln sie sich in etwas Anderes», sagt Jodorowsky.
Es war im Übrigen ein Zufall, dass Jodorowsky sich auf die Suche nach dem ursprünglichen Entwurf des Tarots de Marseille machte. Eines Tages klopfte aus heiterem Himmel ein ungepflegter junger Mann an seine Tür, als Jodorowsky gerade den Tarot studierte.
«Er sagte: Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich mit niemandem sonst sprechen kann, nur mit Ihnen. Dann erzählte er, dass er sich nach dem Tod seines Vaters zu Hause eingeschlossen hatte und nur noch TV schaute. Er sagte, ich sei dreimal vor ihm erschienen und habe mit ihm gesprochen, und er müsse mit mir sprechen, weil er der Sohn der Familie sei, die den Original-Tarot über Jahrhunderte hinweg in Marseille herausgegeben habe.»
Der junge Mann war Philippe Camoin, mit dem Jodorowsky dann die restaurierte Version als «Tarot de Marseille Camoin Jodorowsky» veröffentlichte.
Das Gespräch mit Jodorowsky dreht sich auch um seine Freude am Spiel mit dem symbolischen Anagramm seines Namens – ojo de oro, das goldene Auge, das für den Geist und das Unterbewusste steht – und um seine Interpretation der ewigen Experimente von Alchemisten, die Blei in Gold verwandeln wollen.
«Dein bewusstes Selbst ist das Blei, du musst es bearbeiten, damit es seine Täuschungen und Illusionen verliert, sich ausdehnt, bis das Gold zum Vorschein kommt. Du bist ein goldenes Auge, umgeben von Sinnlichkeiten, und wenn du deine Sinnlichkeit gut ausdehnst, wirst du dein ojo de oro finden», sagt er.
In seinem öffentlichen Vortrag sprach Jodorowsky weder über die Vergangenheit noch über die Kunst. Er erzählte von seinen «Lektionen im Leben» und betonte, dass er immer noch gerne Risiken eingehe. Er forderte seine Anhänger:innen auf, dies auch zu tun.
Aber jede:r müsse seinen eigenen Weg finden, gemäss den Prinzipien der Psychomagie, selbst wenn jemand sich dafür entscheide, überhaupt kein Risiko einzugehen (wie die erwähnten Schweizer:innen). «Ich kann die Schweizer:innen nicht für ihren Weg verurteilen, schliesslich kann es ja tatsächlich passieren, dass sie beim Überfahren einer roten Ampel mit einem rasenden Auto zusammenstossen», sagte er.
Zwischen den literarischen Vorträgen: Chuchchepati Orchestra spielt Bumblebee Flight II Concert, eine Klanginstallation für 8-32 Sprecher, Insekten und Orchester.
EVENTI LETTERARI MONTE VERITÀ
Das Motto der diesjährigen Eventi letterari Monte Verità lautete «Von Bäumen und vom Krieg». Die Literaturtage wollten die beiden wichtigsten Themen unserer Zeit aufgreifen (Klima/Krieg) und einen Bezug zum historischen Kontext herstellen, der zur Gründung der Kooperative auf dem Monte Verità im Jahr 1900 führte.
Klimakrise und Krieg beherrschten folglich die meisten Gespräche und Debatten, ebenso wie der geschichtliche Kontext. Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist für die jüngeren Schriftsteller:innen wie den französisch-algerischen Kaouther Adimi und die russische Dichterin Marija Stepanova, die in Berlin im Exil lebt, ein immer dringlicheres Thema. Der älteste Gast, Jodorowsky, erwähnte jedoch kaum die Vergangenheit oder seine früheren Leistungen. Ganz im Gegenteil: Er bestand darauf, mit seinen «Lektionen des Lebens» in der Gegenwart zu bleiben.
Für das relativ kleine Festival war die Zahl der anwesenden Literaturstars durchaus bemerkenswert. Der 83-jährige australische Anthropologe (und ausgebildete Arzt) Michael Taussig sprach über seinen literarischen Stil, der sich weniger den akademischen Regeln als vielmehr den Beatniks der 1950er und 1960er Jahre verdankt.
Jüngere literarische Koryphäen wie der in Paris lebende Italiener Giuliano da Empoli und Kim de l’Horizon aus Bern, beide in der Schweiz und in Europa mehrfach ausgezeichnet, führten das Festival über die Trockenheit der aktuellen Kriegspolitik und «Kremlinologie» (da Empoli) hinaus. De l’Horizon fiel nicht nur durch androgynes Flair, sondern auch durch eine kritische Haltung gegenüber den rassistischen Tendenzen des estnischen Künstlers Elisàr von Kupffer (1872-1932) auf. Kupffers 26 Meter langes Rundgemälde einer schwulen Idylle befindet sich just in einem Pavillon auf dem Monte Verità.
Die Eventi Letterari Monte Verità standen anlässlich ihrer 11.Ausgabe im Jahr 2023 erstmals unter der künstlerischen Leitung des Zürcher Literaturkritikers Stefan Zweifel. Das Management der Veranstaltung oblag den operativen und institutionellen Leitern des Filmfestivals von Locarno (Raphaël Brunschwig und Marco Solari). Die Literaturtage von Ascona schafften es, dem Tessin einen Platz im literarischen Kalender der Schweiz zu sichern und sorgten für eine starke internationale Ausstrahlung.
Übertragung aus dem Englischen: Gerhard Lob
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