Als die Schweiz die Kultur der Jenischen auslöschen wollte
Viele Jahrzehnte riss die Pro Juventute mit ihrem "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" systematisch jenische Familien entzwei. Wie ergeht es den Betroffenen heute? Ein Blick zurück auf ein dunkles Kapitel Schweizer Geschichte.
Auf dem Esstisch ihrer Wohnung im aargauischen Holderbank stapeln sich mehrere Aktenordner. Es ist nur eine Auswahl unter vielen weiteren, die Uschi Waser im Laufe ihres Lebens angelegt hat. Ihre Vergangenheit hat die Jenische zu einer Archivarin werden lassen.
Vorsichtig nimmt sie ein vergilbtes Blatt aus einem der Ordner und legt es auf den Tisch. Das Papier scheint einst sehr klein zusammengefaltet gewesen zu sein, an den Rändern ist es bereits leicht eingerissen. «Mutterliebe?» steht zuoberst in schmalen Schreibmaschinenlettern.
«Dieses Gedicht habe ich mit fünfzehn Jahren geschrieben», sagt die heute 71-jährige Uschi Waser, «das muss man sich mal vorstellen. Einsamer kann man eigentlich nicht sein.» Mit fünfzehn Jahren – da hatte die junge Uschi bereits 25 verschiedene Heime, Kliniken und Pflegefamilien hinter sich. Ihrer Mutter war sie mit knapp eineinhalb Jahren weggenommen worden. Seither hatte das Mädchen nie mehr als einige Monate am Stück mit ihr verbracht.
Treibende Kraft hinter der Kindswegnahme war das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse», das 1926 auf Initiative von Dr. Alfred Siegfried von der Pro Juventute gegründet worden war. Das Ziel des «Hilfswerks» war es, jenische Kinder aus ihren Familien zu nehmen, um sie «sesshaft zu machen» und so das «Übel der Vagantität» zu bekämpfen.
Letzteres wurde nicht nur als Ursache für eine «Verwahrlosung» der Kinder angesehen, sondern auch als eine Gefahr für die Gesellschaft. 586 jenische Kinder riss das ehemalige Hilfswerk zwischen 1926 und 1973 aus ihren Familien. Eines davon war Uschi Waser.
«Meine Mutter war ein leichtes Opfer für die Pro Juventute», meint die Siebzigjährige heute. Uschi Wasers Mutter war als Kind selbst durch das «Hilfswerk» ihren Eltern weggenommen worden. Mit ihren vier unehelichen Kindern war ihre Mutter überfordert und schlug diese.
«Aber sie wurde von der Pro Juventute auch regelrecht gejagt und in die Ecke getrieben.» So setzte Alfred Siegfried, kaum war Uschi Waser 1952 geboren, alles daran, die Vormundschaft über das Mädchen zu erhalten. Er wollte «unter allen Umständen» verhindern, dass ein «neuer Ableger der Vagantität» entstehe.
In den Heimen, in die er die kleine Uschi Waser einwies, erging es dem Mädchen allerdings nicht besser als zuhause. Strafen und Schläge waren an der Tagesordnung. «Ich erinnere mich bis heute, wie ich als Kind auf einem Tisch lag und von zwei Schwestern festgehalten wurde, damit mich die dritte mit dem Teppichklopfer verprügeln konnte.»
Über Jahre versuchte ihre Mutter, das Sorgerecht für ihre Kinder zurückzubekommen. Ohne Erfolg. Stattdessen wurde Uschi Waser von einem Heim zum nächsten geschoben. Ein Schicksal, das sie mit vielen anderen «Kindern der Landstrasse» teilte. Die Folgen: Entwurzelung und Einsamkeit, auch Freundschaften waren schwierig. Verstanden sich zwei Mädchen gut miteinander, wurden sie so schnell wie möglich voneinander getrennt.
Ein liebevolles Zuhause fand sich schon gar nicht. Über das Erziehungsheim zum Guten Hirten, in dem Uschi Waser mehrere Jahre verbrachte, sagt sie: «Das war Repression, Lieblosigkeit, Einsamkeit. Ich hätte nie dorthin gehört.» Jeden Abend betete sie mit Inbrunst: Lieber Gott schenk mir einen Vater und eine Mutter. «Ich habe so viel gebetet, das reicht für ein ganzes Leben.»
Einmal Heimkind, immer Heimkind
Das «Hilfswerk» griff auf das Gedankengut der eugenischen und rassistischen «Vagantenforschung» zurück. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte der Churer Psychiater Josef Jörger als einer der ersten Namenslisten und Stammbäume jenischer Familien erstellt, um die genetische «Degeneration» von «Vagantenfamilien» nachzuweisen.
Das so genannte «Sippenarchiv» wurde später für psychiatrische Gutachten verwendet. Jörger unterstützte auch eine Politik der Sesshaftmachung und Zerstörung der fahrenden Lebensweise, da er sich damit eine Besserung im Erbgut dieser Familien erhoffte. Eine Ansicht, an die die Stiftung «Kinder der Landstrasse» anknüpfte.
In Pflegefamilien sollten die Kinder zu «sesshaften Bürgern» erzogen werden. Ein Grossteil der Kinder wuchs allerdings in Heimen oder Anstalten auf, da sich zu wenige Pflegefamilien fanden. Ein «Heimkind» zu sein, blieb an den Betroffenen zeitlebens als Makel haften. «Ich habe meinen Lebenslauf stets beschönigt», meint Uschi Waser dazu, «ich hatte Angst, als Heimkind keine Arbeit zu finden.»
Besonders einschneidend: Wer von seinem Vormund als «schwererziehbar» eingestuft wurde, musste in eine Zwangsarbeits- oder Arbeitserziehungsanstalt, wie zum Beispiel die Etablissements de Bellechasse im freiburgischen Sugiez. In diesem Gefängnis, das sich mitten in einer unwirtlichen, von weiten Feldern und Äckern geprägten Ebene erhebt, wurden über hundert «Kinder der Landstrasse» administrativ versorgt – ohne je straffällig geworden zu sein. Der Freiheitsentzug wurde stattdessen mit fürsorgerischen Zielen begründet.
Zwar waren die administrativ Versorgten grösstenteils in einem anderen Trakt untergebracht als die Straffälligen. Die landwirtschaftliche Arbeit, die sie leisten mussten und die Lebensbedingungen waren allerdings praktisch dieselben, wie die der strafrechtlich Inhaftierten. Und die Gesellschaft unterschied nicht, aus welchen Gründen jemand in Bellechasse gewesen war. Ohne triftigen Grund lande schliesslich niemand im Gefängnis, so die Meinung.
Das Ende des «Hilfswerks» und der Anfang des Suchens
Schon seit den 1940er-Jahren hatten sich Jenische an die Medien gewandt, um sich über die Praktiken des «Hilfswerks» zu beschweren. Glaube wurde ihnen aber keiner geschenkt, bis in den 1970er-Jahren eine breite Debatte zum Heimwesen entbrannte. 1972 erschienen die ersten Artikel im «Beobachter». 1973, vor fünfzig Jahren, musste das «Hilfswerk» auf öffentlichen Druck hin aufgelöst werden.
Was folgte, war eine Zeit der politischen Bewusstwerdung und Identitätsfindung der Jenischen. Zahlreiche Vereine wurden gegründet. Vor allem aber war es eine Zeit des Suchens. Zwei bis drei Generationen jenischer Familien waren durch das «Hilfswerk» auseinandergerissen und zerstört worden.
Nun begann die Suche nach den Eltern, Geschwistern und verlorenen Kindern. Der Basler Jenische Venanz Nobel erinnert sich gut an diese Zeit: «Damals tauchten an jedem Tag Leute auf Standplätzen auf und fragten, ob jemand ihre Familie kenne.» Diese Suche ist bis heute nicht abgeschlossen: «Jedes Jahr melden sich noch zwei bis drei Leute bei mir.»
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Sein Vater, Sepp Nobel, war selbst den Eltern als Kind weggenommen worden und bei einer Pflegefamilie aufgewachsen. In den Akten seines Vaters fanden sie später eine handschriftliche Notiz von Siegfried: Er wage ein Experiment, wenn er diesen Buben aus dem fahrenden Milieu herausnehme und zu einem sesshaften Alkoholiker gebe. Bezeichnend: Die Familie Nobel galt trotz festem Wohnsitz als «Fahrende» – aufgrund ihrer jenischen Herkunft. So erging es damals vielen sesshaften jenischen Familien.
Sepp Nobel hatte Glück im Unglück. Der «sesshafte Alkoholiker» starb und seine Pflegemutter zog ihn liebevoll auf. Sie erzählte ihm auch geradeheraus, dass er von «Zigeunern» abstamme. Das liess ihn nicht mehr los. «Jedes Jahr reiste mein Vater nach Zürich zur Pro Juventute und bat sie darum, ihm zu sagen, wer seine Eltern und Geschwister waren.» Diese aber verweigerte die Auskunft und irgendwann gab sein Vater die Suche auf.
«Lügenhaft, undurchsichtig und bequem»
Erst als Venanz Nobel sich selbst für seine jenische Herkunft zu interessieren und nachzuforschen begann, wurde er fündig. Der Grossvater war schon lange tot, die Grossmutter kurz zuvor gestorben. «An der Beerdigung lernten wir auf einen Schlag fünfzig neue Verwandte kennen.»
Kurze Zeit später kaufte sich Venanz Nobel einen Wohnwagen und zog zwanzig Jahre von Platz zu Platz. Sein Vater besuchte ihn, schloss eigene Freundschaften und irgendwann auch Frieden mit seiner Identität als Jenischen, die er bislang vor allem als Stigma wahrgenommen hatte.
Siegfried gelang es in vielen Fällen, Ehen zu verhindern und über den Lebensweg seiner «Mündel» zu bestimmen. Was in den Vormundschaftsakten über die «Kinder der Landstrasse» geschrieben wurde, diffamierte die Kinder und jungen Erwachsenen aufs Stärkste. Welche Auswirkungen das haben konnte, musste Uschi Waser mit vierzehn Jahren am eigenen Leib erfahren.
Sie erstattete damals Anzeige gegen ihren Stiefvater, der sie über Jahre sexuell missbraucht und vergewaltigt hatte. Das Gericht sprach ihn jedoch frei, und zwar aufgrund von Aussagen und Akteneinträgen über Uschi Waser, die das Mädchen als unglaubwürdig darstellten. Heute sagt sie dazu: «Im Grunde hatte ich von Vornherein keine Chance.»
Während des Prozesses versuchte sich Uschi Waser das Leben zu nehmen. «Ich erinnere mich als wäre es heute: Wie ich mir überlegte, wer eine Blume auf mein Grab legen würde. Und zum Schluss kam: niemand.»
Weder die Mutter, die sich im Prozess auf die Seite ihres Ehemannes gestellt hatte. Noch die Ordensschwestern, die sie als «von Natur aus lügenhaft» bezeichneten oder der Vormund, der erst auftauchte, nachdem sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Der Selbstmordversuch wurde als Eingeständnis ihrer Lüge gewertet und Uschi Waser in Therapie geschickt – nicht als Opfer, sondern weil sie für «krankhaft» befunden wurde.
Bis heute verschlägt es ihr die Sprache, wenn sie von dieser Zeit erzählt. Trotzdem hatte sie stets im Glauben gelebt, noch einmal Glück in ihrem Leben gehabt zu haben. Dies änderte sich erst, als sie ihre Akten zu Gesicht bekam; das war 1989, Uschi Waser war damals 37-jährig. «Wie perfide, wie menschenverachtend das war, hätte ich mir nie vorstellen können.»
Die Vormundschaftsakten der Pro Juventute waren jahrelang ein Zankapfel zwischen Betroffenen, Kantonen und dem Bund gewesen, bis sie schliesslich 1986 dem Bundesarchiv übergeben werden konnten. Nun konnten Betroffene die Akten erstmals einsehen. Für viele war es ein Teil ihrer Suche nach Familie und Identität. Keine leichte. So erzählt Venanz Nobel von den Gefühlen seines Vaters: «Auch wenn du den Unterschied zwischen Fakten und Akten kennst: Vier Bundesordner voller abwertender Äusserungen über dich und deine Familie lassen niemanden kalt.»
Ohne die Akten wäre Uschi Waser heute ein anderer Mensch. Ohne die Akten wäre sie aber auch nie mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen. «Ich musste, sonst wäre ich daran erstickt, hätte mich umgebracht oder wäre im Alkohol gelandet», sagt sie heute. So gehört sie heute zu den wenigen Betroffenen, die ihre Geschichte erzählen. Denn viele können oder wollen nicht mehr.
Und doch: Sogar Uschi Waser, die sich als Präsidentin der Stiftung Naschet Jenische stark für die öffentliche Aufarbeitung einsetzt, in ihrem Leben schon an verschiedensten Projekten mitarbeitete und unzählige Interviews gab, hat mit ihren Töchtern nie im Detail über ihre Vergangenheit gesprochen.
Stattdessen hat sie ihre eigenen Strategien entwickelt, um mit dem Vergangenen umzugehen. Sie hat die Hoheit über die Akten erlangt, die solange ihr Leben bestimmten und kontrolliert jeden Schritt, den sie macht. Und sie hält sich stets eine Tür offen: «Ich brauche immer einen Fluchtweg, eine Via d’uscita.» Eine Via d’uscita, das ist ein eigenes Auto, mit dem sie jederzeit wegfahren könnte, oder auch, genügend Bargeld bei sich zu tragen, um in einem Hotel übernachten zu können.
Was bis heute bleibt, ist das Misstrauen gegenüber Autoritäten, die Angst, wieder in ein Heim zu müssen. «Ich habe mich bei Exit angemeldet», sagt Uschi Waser, «bleibt nur noch zu hoffen, dass ich den Absprung nicht verpasse.»
Dieset Text ist eine gekürzte Zweitverwertung aus dem Strassenmagazin Surprise.Externer Link
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