Auf der Suche nach Heimat in Solothurn
Mit Dubravka Ugresic und Melinda Nadj Abonji waren gleich zwei Autorinnen aus dem damaligen Jugoslawien an den Solothurner Literaturtagen vertreten. An beiden Lesungen spielten Heimat und die Schweiz eine Rolle.
Für beide Schriftstellerinnen dient der Zerfall Jugoslawiens als Ausgangspunkt für die vorgestellten Texte. Beide verarbeiten darin eigene Erfahrungen und Erinnerungen. Dass die Definition von Heimat nicht einfach ist, zeigen bereits die Stationen, an denen die Autorinnen gelebt haben.
Melinda Nadj Abonji ist in der Vojvodina, einem Gebiet mit ungarischer Minderheit im Norden Serbiens geboren und in der Schweiz aufgewachsen. Sie bezeichnet sich als «ungarische Jugoslawin mit Schweizer Heimat zurzeit». Zurzeit, weil sie auch schon in Österreich und Deutschland gelebt habe.
Dubravka Ugresic wurde, nachdem sie sich klar gegen den Krieg und den Nationalismus in Kroatien Anfang der 1990er-Jahre ausgesprochen hatte, als «Verräterin» und «öffentliche Feindin» verschrien. 1993 ist sie aus Kroatien weggegangen und lebt heute in Amsterdam. «Ich bin nicht geflohen», betont sie im Gespräch mit swissinfo.
Im Tandem mit Hugo Loetscher
Ugresic wurde von Hugo Loetscher für die Tandem-Lesung eingeladen. Sie unterhalten sich angeregt über Fragen der Identität und Heimat. Ugresic liest dazu zwei Essays vor, Lötscher interpretiert und antwortet mit spontanen Kommentaren und Ausschnitten aus eigenen Texten.
Ugresic analysiert in einem ihrer Essays das Verhältnis zwischen Heimat und Staat. Darin verurteilt sie die Gleichsetzung ihrer Bedeutung. Stattdessen steht sie für die kleine Heimat ein, die sich zwischen Coiffeursalon und Alltag abspiele.
Hugo Loetscher zeigt anhand des Schweizer Kuriosums des Heimatortes, «den zwar jeder hat, aber die wenigsten haben jemals dort gelebt», dass Heimat verschiedene Dimensionen haben kann. Ihm gefalle vielmehr der Begriff «Heimaten», wie er in einem Integrations-Prospekt der Stadt Zürich gelesen habe.
Doch nicht nur der Wegzug in ein anderes Land könne für heimatliche Verwirrung sorgen, sondern bereits ein Umzug vom Land in die Stadt, wie Loetscher das Anfang der 1920er-Jahre erlebt hat. So gesehen sei auch er ein «Secondo».
Die Beschäftigung mit Heimat und deren Verlust wirft die Frage auf, ob die zu diesem Thema entstandene Literatur politisch sei oder nicht. Dazu haben die Autorinnen unterschiedliche Ansichten.
Ein politischer Roman
Die Figuren im noch unveröffentlichten Roman «Tauben fliegen auf» von Melinda Nadj Abonji sind auf der Suche nach Heimat. An den zwei Schauplätzen Zürich und Vojvodina wird eine Familie Zeuge des Krieges in Jugoslawien. «Sie sind zwischen Ost und West verlorene Seelchen», liest Nadj Abonji.
Ihr Roman sei politisch, «weil es eine Arbeit an der Sprache ist. Sprache dient nicht einfach nur als Mittel zum Zweck. Ich leuchte sie aus, klopfe sie ab und hinterfrage Begriffe, die in Zeiten des Krieges fraglos gebraucht werden».
Als Beispiel nimmt Nadj Abonji den Begriff «Balkankrieg»: «Hier werden Balkan und Krieg zusammengezogen und kommen als Einheit daher. Ich fürchte mich davor, dass solche Begriffe selbstverständlich werden.»
Für Nadj Abonji ist es eine politische Aufgabe, Sprache zu hinterfragen: «Das ist meine Aufgabe als Schriftstellerin.»
Nicht politische Literatur
Ganz anders Ugresic: «Ich schreibe keine politische Literatur. Sie würden Philipp Roth auch nie fragen, ob er politische Literatur schreibt. Schriftsteller aus Osteuropa werden ständig danach gefragt. Von ihnen wird immer eine politische Stellungnahme erwartet.»
Deshalb wehrt sich Ugresic gegen die Bezeichnung «kroatische Schriftstellerin». In einem ihrer vorgetragenen Essays steht: «Ansonsten bin ich Schriftstellerin […], aber es zeigte sich, dass das, was ich schreibe, keine Schriftstellerin verfasst hat, sondern eine kroatische Schriftstellerin.»
Gegenüber swissinfo betont sie deshalb: «Meine Priorität ist die hohe Literatur und gutes Schreiben. Das ist meine Arbeit. Das, was mich interessiert, kann Politik sein – aber auch etwas anderes.»
Emotionale Bindung zur Heimat
Auch in Sachen Einstellung zur eigenen Heimat unterscheiden sich die Autorinnen.
So ist der Bezug zur früheren Heimat für Nadj Abonji sehr wichtig. Ihre Verwandten, die sie in der Schweiz sehr vermisse, leben in der Vojvodina. «Ich vermisse aber auch die Landschaft, die Sprache, die Bauweise der Häuser und den Duft.»
«Ich bin froh, dass ich nach dem Krieg immer wieder in die Vojvodina fahren kann. Während des Krieges war das nicht möglich oder nur teilweise.»
Ugresic hingegen hat heute ein zwiespältiges Verhältnis zur ihrer früheren Heimat. Auf der einen Seite hat sie eine emotionale Bindung wegen ihrer Familie und ihren Freunden: «Ich komme regelmässig zu Besuch.»
Auf der anderen Seite nerve sie sich jedes Mal, wenn sie in Kroatien sei: «Es gibt vieles, das mich stört. Bei vielem stocke ich – nicht nur mein Blick, sondern auch mein Gefühl für die Gerechtigkeit. Ich reagiere und kommentiere innerlich darauf. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als darüber später etwas zu schreiben.»
Sandra Grizelj, Solothurn, swissinfo.ch
Dubravka Ugresic ist 1949 in Zagreb geboren, der heutigen Hauptstadt Kroatiens.
Sie schreibt Romane und Essays. In der Neuen Zürcher Zeitung werden ihre Essays regelmässig gedruckt.
Ugresic ist Literaturwissenschafterin und war an zahlreichen Universitäten Gastdozentin.
Zuletzt auf Deutsch ist der Roman «Baba Jaga legt ein Ei» (Berlin Verlag, Berlin 2008) erschienen.
Melinda Nadj Abonji ist 1968 in Becsej im heutigen Serbien geboren.
Sie ist Autorin, Musikerin (Geige und Gesang) und Textperformerin.
Mir ihrem Romandebüt «Im Schaufenster im Frühling» (Ammann Verlag, Zürich 2004) hat sie zahlreiche Auszeichnungen erhalten.
Zum 32. Mal stand das Auffahrtswochenende in Solothurn ganz im Zeichen der Literatur: Von Freitag bis am Sonntag fanden rund 70 Veranstaltungen mit 92 Autorinnen und Autoren statt. 10’500 Besucherinnen und Besucher wurden registriert.
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