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«Bei Frauen bin ich mir nie sicher»

Max Frisch in Mexiko, 1956 Josef Müller-Brockmann/Max Frisch Archiv, Zürich

Wie nähert man sich einer Literatur-Ikone wie Max Frisch? Das Museum Strauhof in Zürich hat in seiner Ausstellung anlässlich des 100. Geburtstags des Schweizer Schriftstellers für einmal die Leser befragt.

«Natürlich weiss ich, dass ich Leser habe seit einigen Jahren, und ich habe sie auch schon in Sälen gesehen; ich rechne nicht damit, dass sie im gleichen Bus fahren», sagt Max Frisch 1975 in «Montauk».

Vielleicht würde er sich wundern, was seine Leserinnen und Leser heute über ihn wissen und sagen. Im Museum Strauhof in Zürich wurden über drei Stunden Film-Statements zu Max Frisch zusammengetragen und präsentiert.

Die Spannweite der Frisch-Kenntnisse reicht weit über die 17 Themeninseln hinaus, aus denen sich die Ausstellung im verwinkelten Strauhof-Museum zusammensetzt.

Die Wanderung über die Themeninseln gewährt Blicke auf den modernen Klassiker, auf Lebensstationen und eben vor allem auf sein Publikum, Laien und Fachleute, die ihr (Nicht-) Wissen und Ansichten darlegen.

Schrecklich kompliziert

So meint etwa ein Schüler: «Ich glaube, ich will nicht nochmal was von Max Frisch lesen. In Homo Faber, da ist er mir eher unsympathisch, und er schreibt schrecklich kompliziert.»

Demgegenüber sagt der deutsch-türkische Filmregisseur Fatih Akin: «Ich war gut in Deutsch, weil der Unterricht viel mit Dramaturgie, mit dem Geschichten-Erzählen zu tun hatte. Wir haben viel von Heinrich Böll und Max Frisch gelesen, das war wichtig für mich.»

Die Ausstellungsmacher loben Frisch nicht einfach über den grünen Klee und seine Aktualität wird zum Teil auch in Frage gestellt, so sagt die Künstlerin Maja Vieli: «Die Frisch-Themen sind heute einfach nicht mehr meine Probleme.»

Sie hätte sich als werdender Mensch sehr gut mit den Problemen identifizieren können, die Frisch aufwarf: Identität und wie man leben will. «Nur der Wusch nach dem Weggehen, damit kann ich mich heute immer noch identifizieren.»

Max Frisch ist nicht in jedermanns Kopf, erklärt die Ausstellungskuratorin Annemarie Hürlimann gegenüber swissinfo.ch: «Wir haben Strasseninterviews gemacht, und da wurden wir ein bisschen enttäuscht, weil viele Frisch gar nicht kannten. Doch In Berlin trafen wir einen jungen Türken, der Frisch sehr gern auf Türkisch gelesen hat.»

Fragen über Fragen

Ein wesentlicher Teil von Frischs Arbeit war seine hochentwickelte Fähigkeit, Fragen zu stellen. «Können sie sich eine Ehe ohne Humor vorstellen?», steht zum Beispiel auf dem Glückskeks, den der Schreibende aus einer Röhre gezogen hat. «Nein», lautet dessen Antwort.

«Gesetzt den Fall, Sie haben nie einen Menschen umgebracht: wie erklären Sie sich, dass es nie dazu gekommen ist?», fragt Frisch in elf Fragebögen im «Tagebuch 1966 bis 1971». Teilweise provokative Fragen, die bei Leserinnen und Lesern Emotionen hervorrufen.

Weitere Fragen: «Lieben sie jemanden? Und woraus schliessen Sie das?» Die Studentin Eva Sperschneider sagt in einem Kurzfilmchen: «Spannend fand ich zum Beispiel eine Frage, wohin der Wert eines Geldscheins geht, wenn man ihn verbrennt?»

Frischs oft naive, teils kindlichen Fragen beeindruckten den damaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Schmitt offenbar so stark, dass er den Schweizer Schriftsteller in die deutsche Delegation für einen Staatsbesuch in China aufnahm.

Frisch und die Frauen

Frisch hat für seine Hauptfiguren immer Männer gewählt: Gantenbein, Stiller, Faber, Don Juan. Aber die Liebe ist für ihn ein grosses Thema.

Lea, eine Schülerin, sieht das nach der Lektüre von Homo Faber so: «Frauen sind für Faber zu anstrengend. Wenn sein Rasierapparat kaputt ist, kann er den auseinandernehmen und schauen, wie er funktioniert. Aber eine Frau kann er nicht auseinandernehmen. Deshalb sind sie ihm zu anstrengend…»

Nestbeschmutzer?

«Ich bin gerne Schweizer, aber ich fühle mich nicht verpflichtet, die Schweiz für besser zu halten als andere Länder», brachte Frisch 1957 in einer Rede zum Nationalfeiertag sein Verhältnis zu seinem Heimatland auf den Punkt.

Diese kritische Haltung gegenüber der Schweiz forderte viele Konservative zum Widerspruch auf. «Mit seinen Überlegungen und Einsichten ist Max Frisch zu einer Identifikationsfigur für viele Schweizerinnen und Schweizer geworden, junge und ältere, die mit dem starren Heimatbegriff der konservativen Schweiz ihre Probleme hatten», schreiben die Ausstellungsmacher.

Für Frisch, der schon 1974 Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz als Illusion bezeichnet hatte, war der Begriff «Heimat» nicht durch Bequemlichkeit definiert. «Wer HEIMAT sagt, nimmt mehr auf sich.»

Wo steht Frisch heute?

Vor hundert Jahren wurde Max Frisch geboren, vor 20 Jahren starb er. Wo steht er heute? Die Kuratorin Annemarie Hürlimann: «Ich hatte Max Frisch als Schullektüre abgehakt, wie viele: Biedermann, Andorra, Homo Faber. Anfänglich hatte ich gar nicht so grosse Lust, mich nochmals mit Frisch zu beschäftigen.»

Sie habe lange im Ausland gelebt und schliesslich einen persönlichen Zugang gefunden: «Frischs Sehnsucht nach der Ferne und doch immer wieder nach Hause zurückzukehren, das hat mich interessiert.»

Totale Individualisierung

Für Hürlimann ist die Ausstellung ein «Angebot, denn es hat unglaublich viel Material. Pro Station braucht man zwei bis drei Minuten, dann gibt es noch die Werksspur». Wenn man alles sehen wolle, benötige man ungefähr sechs Stunden.

«Das übersteigt die Physiologie eines normalen Besuches», sagt sie. «Man kann aber in der Ausstellung eine eigene Selektion machen, aufgrund der mit Überschriften bezeichneten Themen. Und wenn man nach einer Stunde rausgeht, hat man nichts verpasst, man hat etwas gewonnen.»

Geboren 15. Mai 1911
1924: Realgymnasium in Zürich
1930: Beginn eines Germanistik-Studiums an der Uni Zürich
1931: Erster Beitrag in der Neuen Zürcher Zeitung
1932: Tod des Vaters. Frisch arbeitet mehr journalistisch, um das Überleben für sich und seine Mutter zu gewährleisten
1933: Sportreporter für die NZZ an der Hockey-WM in Prag, anschliessend Reisen durch Ost- und Südosteuropa, mit Feuilletonbeiträgen finanziert
1934: Erster Roman: «Jürg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt»
1936: Beginn Architekturstudium, mitfinanziert von seinem Freund Werner Coninx
1937: «Antwort aus der Stille. Eine Erzählung aus den Bergen»
1939: Beginn Zweiter Weltkrieg. Frisch leistet aktiven Dienst als Kanonier
1940: «Blätter aus dem Brotsack», Tagebuch eines Soldaten
1942: Heirat mit Trudy von Meyenburg
1943: Geburt von Tochter Ursula
1944: Sohn Hans Peter geboren
1945: «Nun singen sie wieder» wird als erstes Frisch-Stück am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt
1949: Geburt von Tochter Charlotte

1950: «Tagebuch 1946–1949»

1951/52: Amerika Stipendium, USA-Aufenthalt
1954: «Stiller». Trennung von der Familie

1957: «Homo Faber»
1958: «Biedermann und die Brandstifter»
1960-1965: Aufenthalt in Rom mit Ingeborg Bachmann
1964: «Mein Name sei Gantenbein», Kauf und Umbau von Haus in Berzona, Tessin
1966: Erste Reise in Sowjetunion. Tod der Mutter
1968: Heirat mit Marianne Oellers
1970: Austritt aus dem Schweizerischen Schriftsteller-Verband; Gründungsmitglied der «Gruppe Olten».
1971: In New York. «Wilhelm Tell für die Schule».
1972: «Tagebuch 1966–1971»
1974: «Dienstbüchlein»
1975: «Montauk. Eine Erzählung»
1978: «Triptychon. Drei szenische Bilder»
1979: «Der Mensch erscheint im Holozän», Scheidung von Oellers
1981: Richard Dindo dreht Film «Max Frisch, Journal I–III. Eine filmische Lektüre der Erzählung Montauk»
1982: «Blaubart. Eine Erzählung»
1986: Rede an Solothurner Literaturtagen: «Am Ende der Aufklärung steht das Goldene Kalb».
1989: Vor Volksabstimmung über Abschaffung der Schweizer Armee: «Schweiz ohne Armee? Ein Palaver»
1990: Krebsdiagnose. Fichenaffäre: Frisch wurde 40 Jahre lang bespitzelt
1991: 4. April: Frisch stirbt in Zürich.

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