Caran d’Ache hat im digitalen Zeitalter nicht ausgedient
Jeden Tag produziert Caran d'Ache so viele Stifte, dass sie längs aneinandergereiht von Genf bis Rom reichen würden. Doch wie gut ist der Schweizer Schreibgeräte-Hersteller, der dieses Jahr sein 100-Jahr-Jubiläum feiert, für unsere zunehmend digitale Lebensart gewappnet?
«Das sieht aus wie etwas, das hastig vom Schreibtisch eines Kollegen gepflückt wurde», lacht Carole Hübscher, die Chefin von Caran d’Ache, als ich sie frage, was sie von meinem billigen Plastikkugelschreiber hält.
Es ist nicht so, dass ich keinen Gedanken an die Wahl meines Stifts verschwendet hätte – ich hatte, unterwegs im Zug nach Genf, wo Caran d’AcheExterner Link seit 1915 Zeichnungs- und Schreibgeräte herstellt. In diesen hundert Jahren veränderte sich die Art und Weise, wie die Leute kommunizieren, zwar unglaublich stark. Dennoch sagt Hübscher: «Ich kenne niemanden, der nicht einen Kugelschreiber oder einen Bleistift mit sich herumträgt.»
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Bleistift ohne Blei
Etwa 280 Leute arbeiten in der Fabrik in Thônex, einem Vorort von Genf direkt an der Grenze zu Frankreich. Vor dem Tor hält ein riesiger roter Bleistift Wache. Bleistifte waren die ersten Produkte von Caran d’Ache. Heute umfasst die Produktion auch Kugelschreiber, Füllfederhalter, Farbstifte, Wachspastellkreide und weitere Büro- und Kunstutensilien.
In der Manufaktur wird die Arbeit früh aufgenommen – vor allem im Sommer, um so der Nachmittagshitze entgehen zu können. Um 9.30 Uhr ist es in dem Raum, in dem einfache Metallzylinder auf grössere Dinge vorbereitet werden, schon ziemlich warm.
Test für Schreibstifte
Ölige Maschinen formen die kleinen Röhrchen zu sechseckigen Gehäusen für die Schreibgeräte. Im späteren Verlauf der Produktion werden die Gehäuse zum Beispiel mit Diamantbohrkronen oder Laser geätzt – von Hand oder per Computer – je nach gewünschtem Effekt. Andere Gehäuse erhalten eine Beschichtung aus Emaille.
Später werden Clips angebracht, aber erst, nachdem ein Flexibilitätstest bestanden ist. Für die Kugelschreiber muss die Tinte den «100-Meter-Test» bestehen, den ich unabsichtlich unterbreche, als ich der Maschine zu nahe komme. Zum Glück lacht die Aufsichtsperson nur.
In einem anderen Teil der Fabrik kommen wir an einem Behälter vorbei, dessen Inhalt aussieht wie violette Spaghetti – die Überreste eines Experiments zur Entwicklung einer neuen Farbe für die Farbstifte. Hat Caran d’Ache sich einmal für einen Farbton entschieden, erfolgt die Reproduktion äusserst effizient. Während der Visite von swissinfo.ch wird ein riesiger Posten Limettengrün für die Stiftminen produziert – die Menge wird für Jahre reichen.
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Hinter den Kulissen von Caran d’Ache
Auch die Stifte können nach dem Kauf jahrelang halten, sogar wenn sie aus dem fünften Stock gefallen sein sollten. Hübscher, Mutter von drei Kindern, legt grossen Wert auf Qualität und Wirtschaftlichkeit.
«Zu Beginn des neuen Schuljahrs brauchen Sie nicht eine ganze neue Schachtel zu kaufen, sondern können einfach fehlende Farben oder jene Stifte ersetzen, die viel gebraucht wurden. Bei Caran d’Ache wirft man die Dinge nicht einfach weg», erklärt Hübscher. Das gilt noch mehr für die teureren Schreibgeräte, die eine lebenslange Garantie haben.
«Wenn Sie ein hochwertiges Schreibgerät besitzen, das Sie schon viele Jahre gebraucht haben, ist es wichtig zu wissen, dass Sie es hierher zu uns senden können, zur Wartung und Reinigung – und dass Sie das Gerät an die nächste Generation weitergeben können», sagt Hübscher. Jedes Jahr nutzen etwa 5000 Leute diese Dienstleistung. Einige dieser Schreibstifte sind Jahrzehnte alt.
Mehr als ein Kinderspiel
Aber sind Schreibstift und Papier im Zeitalter von Tablets und Smartphones nicht weniger wichtig geworden?
«Vielleicht schreiben die Leute heute weniger als früher, aber für jene, die es immer noch tun, ist ein Schreibgerät ein Muss. Es ist eine Freude für Hand und Herz», findet der Zürcher Reporter und Stilguru Jeroen van Rooijen. Und fügt hinzu, dass Leute ihre Worte sorgfältiger abwägen würden, wenn sie von Hand schrieben.
Schreiben und Zeichnen mit der Hand sei für Kinder äusserst wichtig, erklärt Denise Bassan, Therapeutin für Psychomotorik in Bern: «Wenn sie ins Schulalter kommen, sollten sie wissen, wie man mit Stift und Papier umgeht.»
Bassan hilft Kindern im Alter von vier bis acht Jahren, ihre Feinmotorik zu verbessern. «Es gibt Kinder in diesem Alter, die sich noch nicht allein anziehen, und erst recht nicht mit Farbstiften zeichnen können.»
Das kann auch zu einem akademischen Problem werden. «Wenn ein Kind nicht lernt, richtig zu schreiben und sich auf den physischen Akt des Notizenmachens konzentrieren muss, kann es schwierig werden, den Lehrstoff aufzunehmen.»
Oskar Jenni, Direktor der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Universitätskinderspital Zürich, ist der Ansicht, Kinder im Alter von zwei bis acht Jahren machten in den Tagesstätten und Schulen immer noch genug praktische Erfahrung mit Zeichnen – was eine gute Sache sei.
«Es ist wichtig, dass Kinder lernen, zu zeichnen und zu schreiben, weil dies ein Prozess ist, in dem man versucht, Ideen und Gedanken zu Papier zu bringen. Das ist ein komplexer Denkprozess, der auf elektronischen Geräten nicht so ohne weiteres vollzogen werden kann», sagt Jenni. Kinder, fügt er hinzu, hätten einen «naturgegebenen Antrieb», das zu tun, auch wenn es manchmal bloss Kritzeleien mit einem Stecken im Sand seien.
Gemäss einer Untersuchung, die Jenni kürzlich machte, beeinflusste die Computer-Technologie bisher die Art und Weise, wie Kinder zeichnen, nicht. Er und sein Team verglichen figurative Zeichnungen von Kindern von 1980 mit solchen von 2010. Sie konnten bei den Fähigkeiten keine Unterschiede ausmachen.
Professionelle Zeichner
«Wie man sieht, werden Bleistifte noch immer häufig genutzt», schmunzelt Robert Lzicar, als er auf die ausgestellten Werke von Studierenden der Berner Hochschule der Künste (HKB) zeigt. Lzicar ist Leiter des Masterstudiengangs für Kommunikationsdesign, der aus einer Mischung von freihändigem und digitalem Schaffen besteht.
«Die Studierenden ziehen keine Linie zwischen analoger und virtueller Methode», erklärt Lzicar. Stattdessen würden sie verschiedene Methoden kombinieren, was immer am besten stimme für sie.
«Ich kenne einen guten Posterdesigner, der für den Entwurf zuerst Bleistift verwendet und dann Tinte, danach scannt er die Arbeit ein und braucht Photoshop für die Farben, weil das schneller geht und man eine Mischung verschiedener Ästhetiken erhält. Das entspricht der Zeit, in der wir uns im Moment befinden», sagt Lzicar.
Anselm Stalder, Leiter des Studiengangs Fine Arts an der HKB, ist gleicher Ansicht. «Ich glaube gar nicht, dass es einen Dualismus gibt zwischen so genannt alten Werkzeugen und digitalen Technologien», sagt er.
Vielmehr würden Kunstschaffende «geleitet von einem starken Wunsch nach einem bestimmten Resultat», nach einem Werk, mit dem man ein Publikum konfrontieren und in eine Diskussion verwickeln könne. «Wie wir dieses Ziel erreichen», sagt Stalder, «hängt weniger ab von den Werkzeugen als von unserer Haltung, unserem Verständnis vom ‹Stand der Technik› in unserem Beruf.»
Lzicar ist der Ansicht, dass der digitale Stift für grafische Designer eine grossartige Entwicklung war. «Davor hatte man immer eine Maus und musste klicken, doch die Verbindung zwischen Hand und Kopf ist eine ganz andere. Dann kamen diese Pads auf, die besser und besser werden», erklärt Lzicar mit Blick auf die Sets von Tablets mit Schreibstiften.
Ein Zeichen der Zeit?
Es ist schwer, vorauszusagen, wie es Caran d’Ache in den nächsten hundert Jahren ergehen wird. Als Privatunternehmen veröffentlicht die Firma keine Verkaufszahlen. Auf die Frage, welche Innovationen Caran d’Ache plane, zögert Hübscher mit einer Antwort, erwähnt aber, ein Stift – der RNX.316 – sei so konzipiert, dass er auch als Schreibstift für Tablets und Smartphones genutzt werden könne.
Und sie scheint nicht besorgt, dass die Leute das Schreiben von Hand je aufgeben werden. Sie sei überzeugt, dass die Leute immer irgendeine Art von Schreibgeräten, seien es Kugelschreiber, Füllfederhalter oder Bleistifte, nutzen und damit kreativ tätig sein würden, sagt sie. «Ich glaube, es gibt etwas im Menschen, das sagt, ‹Jetzt will ich eine Auszeit nehmen von all diesen Maschinen und etwas selber machen›.»
Auch Stil-Reporter van Rooijen kann sich eine Gegenreaktion auf das digitale Zeitalter vorstellen. «Ich erwarte, dass die heute geradezu digital süchtigen Leute der Bildschirme und virtuellen Freuden überdrüssig sein und analoge, nicht-digitale, taktile Freuden wieder entdecken werden. Zuerst wird das Schreiben von Hand zwar noch seltener werden, aber es wird seine Aura nicht verlieren. Es wird seine Renaissance erleben.»
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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