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«Ich bin skeptisch, ob die Restitution das Trauma lösen wird»

Collage der Künstlerin Vitjitua Ndjiharin
"Presence in Absence", Collage von Vitjitua Ndjiharine - mit Material aus einem Foto des Botanikers und Afrikaforschers Hans Schinz Peter D. Hartung

In Schweizer Museen befinden sich etliche Gegenstände, die der Zürcher Botaniker Hans Schinz im kolonisierten Namibia von den Vorfahren von Vitjitua Ndjiharine erworben hat: Die namibische Künstlerin im Gespräch über Rück-Aneignungen und die Verwandlung von Gespenstern.

Obwohl er ein Botaniker war, sammelte Hans Schinz auch Alltags- und Kultgegenstände. «Man muss eben alles sammeln», schreibt der Zürcher Schinz seiner Mutter voller Enthusiasmus, kurz nachdem er einen heiligen Stein und einen menschlichen Schädel entwendet hatte im Namen der Wissenschaft, gegen den ausdrücklichen Willen der einheimischen Bevölkerung in Olukonda, Namibia. 

Der Forschungsreisende Hans Schinz (1858-1941) ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

Nach Namibia kommt Schinz 1884 mit einer deutschen Forschungsexpedition, welche die Kolonisierung mitvorbereitet. Später forscht er auf eigene Faust und veröffentlicht einen ersten zentralen Übersichtsband über «Deutsch-Südwest-Afrika», wie Deutschland die Kolonie nennt. 

1887 kehrt er mit 50 Kisten zurück in die Schweiz, wird 1893 Direktor des Botanischen Gartens Zürichs, 1895 Professor für Botanik an der Universität Zürich – vor allem dank seiner Sammlung, die vergleichbar ist mit jenen, die Städte von Kolonialmächten vorzuweisen haben.

swissinfo.ch hat mit der namibischen Künstlerin Vitjitua Ndjiharine geprochen. Sie ist eine direkte Nachkommin des Herero-Chiefs Ndrajine, der Schinz im Juni 1885 etliche Objekte mitgegeben hatte.

Vitjitua Ndjiharine
Vitjitua Ndjiharine Juliansalinas.ch

swissinfo.ch: Wann haben Sie zum ersten Mal bemerkt, dass sich Gegenstände Ihrer Vorfahren in einem Schweizer Museum befinden?

Vitjitua Ndjiharine: Die erste Spur war der Grossvater meiner Grossmutter. Er bekehrte andere Namibier:innen zum Christentum. Der Historiker Dag Henrichsen, der die Geschichte Namibias wie ein Lexikon kennt, hat mir von ihm erzählt, als er meinen Namen sah. Daraufhin besuchte ich das Archiv der Basler Afrika Bibliographien.

Ein Stipendium von Pro Helvetia ermöglichte mir 2021, Schinz› Objekte näher anzusehen. Da habe ich entdeckt, dass alle Objekte aus seiner Herero-Sammlung von meiner Familie stammen. 

Wie haben Sie das festgestellt?

Es gibt diesen Tagebuch-Eintrag zu seinem Aufenthalt in Omburu, wo er den Urgrossvater meiner Grossmutter traf. Der hat sich im Gegensatz zu seinem Sohn geweigert, zum Christentum überzutreten.

Schinz schreibt, dass er vom «Heiden-Häuptling», wie er ihn nennt, 55 Objekte erworben und mit ihm ein Gespräch über Herero-Traditionen geführt habe. 

Wie fand dieses Sammeln statt? Schinz war nicht dafür bekannt, sanftmütig zu sein. Ihren Urahnen bezeichnete er aber als «alten Freund».

Ich weiss. Vielleicht waren sie sogar befreundet. Wir wissen oft nicht genau, wie diese Geschäfte abgelaufen sind. Manche setzten bei ihren Forschungsreisen in Afrika auf Grausamkeit, andere sahen, dass man mit Freundlichkeit weiter kommt. Aber am Ende des Tages hatte auch Schinz nur zum Ziel, Dinge aus Namibia nach Europa zu nehmen, um eine Karriere voranzubringen.

Er sammelte ohne Hemmungen auch Gegenstände, die einen spirituellen Zweck hatten oder für den Clan wichtig waren. Von meiner Familie hat er zum Beispiel dieses Oruzo-Symbol.

Worin bestand sein Zweck?

Für jemanden, der die Symbole zu lesen weiss, gibt es wichtige Hinweise über die Abstammungslinie meiner Familie. Doch für Schinz war es nur ein weiteres Objekt in seinem Koffer voller Dinge, die ihm den wissenschaftlichen Durchbruch versprachen. 

Rituelles Objekt
Eingeweihte erkennen im ObjektVMZ Inv.-Nr. 195 Verwandtschaftsverhältnisse. Foto: Kathrin Leuenberger / Völkerkundemuseum Uzh

In welchem Verhältnis stand Schinz zum deutschen Kolonialsystem?

Schinz war mit einer Expedition Alfred Lüderitz› unterwegs, der die Kolonisierung Namibias mit Landerwerb in die Wege geleitet hatte. Und seine Forschung wäre ohne die Netzwerke des Siedlerkolonialisms, welche die Missionare und Händler vor Ort errichtet hatten, undenkbar gewesen. Auch meine Familie fand er, weil er in einer Missionsstation Halt machte. 

Was hat die Entdeckung der Gegenstände bei Ihnen bewirkt?

Meine Familie wusste nichts von diesen Objekten, bis ich ihr davon erzählte. Als ich nach meiner Entdeckung anfing, meiner Grossmutter Fragen zu stellen, fing sie an, mir von ihrem Vater zu erzählen, von seinen verschiedenen Jobs, als Lehrer, als Bergarbeiter und als Händler. Ich fragte mich, warum wir nicht früher darüber sprachen.

Warum nicht?

Ein Grund ist das schiere Trauma dessen, was während des deutschen Völkermordes geschah. Und nach der deutschen Kolonialzeit kam die Zeit der Apartheid unter Südafrika, die für Schwarze ebenso traumatisierend war. 

Nach der Bewegung des Befreiungskampfes, als Namibia unabhängig wurde, kam die grosse Verleugnung. Die Devise war: Lasst uns die ganze Vergangenheit vergessen, lasst uns mit unserem Leben weitermachen. Aber nach all diesen Jahren hängt der Schatten dieser Dinge immer noch über dem Land. Statuen, die an deutsche Soldaten aus der Kolonialzeit erinnern, stehen immer noch dort.

Die Psychoanalytikerin Karima Lazali meinte das koloniale Trauma bestehe auch darin, Geisel einer nicht aufgearbeiteten Geschichte zu sein. Was kann Kunst zu dieser Aufarbeitung beitragen, was Geschichte nicht kann?

Ich habe Geschichte immer geliebt. Aber oft war es schwierig, sich selbst in dieser Geschichte zu sehen, vor allem in der Geschichte Namibias. Gleichzeitig ist man unlösbar damit verbunden. Wenn man sich Menschen ansieht, wo und wie sie leben, welche Lebensqualität sie haben, dann ist das das Resultat historischer Ereignisse. Kunst kann diese Eingebundenheit zeigen, kann die Körper der Menschen als Archivraum denken.

Wie?

Ich habe beispielsweise mit Archivfotografien aus der Kolonialzeit gearbeitet, wie sie auch Schinz gemacht hat. Das sind Fotografien, die Menschen dokumentieren, gemacht, um andere Menschen zu studieren und in verschiedene Typen zu kategorisieren. Viele der Fotografien in den Archiven spielen auch mit der Sexualisierung schwarzer Frauen, die meist namenlos bleiben.

Diese Fotografien sollen auch die Angst vor den Unterdrückten bannen. Ich habe versucht, mir diese Körper mit meiner Arbeit wieder anzueignen, sie zurückzufordern und die Anonymität von diesen Körpern zu entfernen. Sie sollten nicht mehr nur Menschen aus der Vergangenheit sein, die nichts mit uns zu tun haben.

Ich wollte fragen: Wer war diese Person? Was für ein Leben hat sie geführt? Ich habe versucht diesen Personen mit meinen Collagen ein Gefühl der Menschlichkeit zurückzugeben. Ohne das bleiben sie gebannte Gespenster.

Collage von Vitjitua Ndjiharine
«Mirrored Reality» – deutscher Kolonist und der Umriss einer Herero-Frau, entfernt von Vitjitua Ndjiharine Vitjitua Ndjiharine

Schinz› Fotografien wurden 2021 an Namibia zurückgegeben. Die von ihm gesammelten Objekte sind aber noch in der Schweiz. Wurden dafür Forderungen gestellt? 

Nein, aber es ist auch ein bisschen kompliziert. Da ist einerseits die Bürokratie – andererseits weiss ich nicht einmal, was zu tun das Richtige ist. Sollen die Objekte in eine Sammlung? Gehen Sie zurück zur Familie, in Privatbesitz?  In meiner Familie zum Beispiel interessieren sich einige für die Objekte, andere halten das bloss für altes Zeug. Andere wollen mit den Vorfahren am Heiligen Feuer zusammenkommen und sie entscheiden lassen.

Ich sage das nicht, um dafür zu plädieren, die Objekte überhaupt nicht zurückzugeben oder zu restaurieren. Aber es gibt diese Projektion des Traumas auf die Objekte, das Versprechen, dass ihre Restitution das Trauma lösen wird – da bin ich skeptisch. Gleichzeitig hat die Dissoziation von der eigenen Geschichte auch dazu geführt, dass die Menschen auf eine bestimmte Art und Weise geschlafen haben – deswegen ist der Kampf für die Restitution sehr wichtig.  

Die Kolonialherrschaft Deutschlands in Namibia dauerte von 1884 bis 1915 – danach wurde es von Südafrika übernommen.

Erst 1990 erlangte das Land die Unabhängigkeit. Die Herero gehörten zu jener Bevölkerungsgruppe, die sich der Kolonisierung durch die Deutschen am stärksten entgegensetzten.

1904 wagten sie den Aufstand. Die deutsche Kolonialmacht antwortete mit grösster Brutalität – wer nicht im Kampf umkam, wurde in Konzentrationslager deportiert.

1911 lebten von den 60’000 bis 80’000 Herero noch ungefähr 20’000. Seit 2015 spricht auch die deutsche Bundesregierung von einem Genozid.

Karte von Deutsch Südwestafrika
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