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Englisch als Landessprache: Go oder No-Go?

Cartoon: Do you speak English?
Valery Kachaev

Schweizerinnen und Schweizer aus verschiedenen Teilen des Landes unterhalten sich oft auf Englisch. Man kann das beklagen. Aber dient Englisch nicht gar dem nationalen Zusammenhalt – als Brücke über den Röstigraben? 

Der Umgang mit der Pandemie hat zwischen den Sprachregionen des Landes kommunikative Herausforderungen geschaffen, die nach Ansicht eines Spitzenpolitikers angegangen werden müssen.

«Ich denke es ist eine Gelegenheit, über die Mehrsprachigkeit im Land zu diskutieren und ich glaube, dass diese Diskussionen zu Gesetzen führen sollten, in denen Englisch als eine der Landessprachen anerkannt wird.» Das sagt Sven Gatz, der die aktuelle Situation als «nicht sehr zukunftsträchtig» bezeichnet. Natürlich werde das Widerstand geben. «Es gibt viele, die sagen, wir sollten zuerst die eigenen Sprachen lernen, bevor wir Englisch den Vorrang geben.»

Gatz ist kein Schweizer. Er ist Flame, Brüsseler Minister für die Förderung der Mehrsprachigkeit und sprach am 16. März mit der Brussels Times. Seine Aussagen weisen deutlich auf die politischen und sozialen Herausforderungen hin, denen offiziell mehrsprachige Länder wie die Schweiz, Belgien und Kanada gegenüberstehen.

Ein Interview in Englisch

Anfang Jahres interviewte ein Reporter des deutschsprachigen Schweizer Fernsehens SRF Jean-Stéphane Bron, einen Schweizer Filmregisseur aus dem französischsprachigen Lausanne. Man sprach Englisch miteinander:

Wie kam es dazu? «Normalerweise wollen SRF und die Tagesschau, dass Interviews in der jeweiligen Landessprache geführt werden», erklärt die Journalistin Uta Kenter. Sie sei aber in Deutschland aufgewachsen und habe das Gefühl, ihr Französisch reiche nicht aus, um darüber zu diskutieren, wie man das menschliche Gehirn im Computer nachbilden könne. Bron ging es offenbar ähnlich mit seinem Deutsch.

«Sehr oft stellen wir Fragen auf Englisch, und der Interviewpartner antwortet in seiner Landessprache. In diesem Fall war das leider nicht möglich», sagte sie.

Gibt es einen Boom?

Da Brons Worte ohnehin ins Deutsche synchronisiert worden wären, egal ob aus dem Englischen, dem Französischen oder einer anderen Sprache, machte es für den Zuschauer keinen Unterschied. In der Theorie wirft es aber interessante Fragen über die Rolle und den Status des Englischen in der Schweiz auf. Erstens: Nimmt die Nutzung des Englischen als Brückensprache tatsächlich zu?

«Anekdotisch gesehen sind wir uns wohl alle einig, dass Menschen mit unterschiedlichem Schweizer Sprachhintergrund dazu neigen, Englisch als Lingua franca zu verwenden», sagt Franz Andres Morrissey, Dozent für englische Linguistik an der Universität Bern.

Morrissey kennt aber keine gross angelegte quantitative Studie, welche die anekdotische Evidenz bestätigen oder widerlegen würde. Er verweist indes auf eine Studie von Mercedes Durham, einer Soziolinguistin, die jetzt an der Universität Cardiff arbeitet. Sie hat 2003 den E-Mail-Austausch zwischen Schweizer Medizinstudenten untersucht und festgestellt, dass diese zunächst in ihrer Muttersprache kommunizierten und schliesslich zum besseren Verständnis auf Englisch wechselten.

«Englisch ist in gemischtsprachigen Gruppen offenbar die leichtverständlichste und akzeptierteste Sprache, was vor allem daran liegt, dass es für alle eine Nicht-Muttersprache ist», schrieb Durham. «Die Italienischsprechenden auf der Mailingliste waren Treiber, denn da niemand sonst ihre Muttersprache sprach, wussten sie, wie wichtig gegenseitiges Verstehen ist.»

Kai Reusser / swissinfo.ch

Die Schweiz hat vier Landessprachen: Deutsch wird von rund 63 % der Bevölkerung gesprochen (die große Mehrheit davon spricht tatsächlich Schweizerdeutsch), Französisch von 23 %, Italienisch von 8 % und Rätoromanisch von 0,5 %, also rund 50’000 Menschen.

Ob beim Tratsch mit Verwandten oder Arbeitskollegen, beim Surfen im Internet, beim Lesen oder Fernsehen: 68% der über 15-Jährigen verwenden laut Daten von 2019 mindestens einmal pro Woche mehr als eine Sprache. Die verbleibenden 32 % gaben an, dass sie nur eine Sprache verwenden, ein Rückgang von 36 % im Jahr 2014. Je älter die Person ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie nur eine Sprache verwendet. Die Umfrage ergab, dass 38 % regelmäßig zwei Sprachen verwenden, 21 % verwenden drei, 6,4 % vier und 1,7 % mindestens fünf Sprachen.

Englisch ist die häufigste Nicht-Nationalsprache und wird in der Schweiz von 45% der Bevölkerung regelmässig gesprochen.In der Deutschschweiz ist es weiter verbreitet als in den italienisch- und französischsprachigen Regionen (46% vs. 37% bzw. 43%).

Im Jahr 2019 gaben fast drei Viertel der 15- bis 24-Jährigen an, mindestens einmal pro Woche Englisch zu sprechen, zu schreiben, zu lesen oder zu hören, rund zehn Prozentpunkte mehr als 2014.

Das Sprachobservatorium der italienischen Schweiz (OLSIExterner Link), das verschiedene Aspekte des Italienischen in der Schweiz erforscht, stellt fest, dass der Gebrauch des Englischen am Arbeitsplatz mindestens seit den 1990er-Jahren landesweit zu- und der Gebrauch der Landessprachen abgenommen haben.

Im Tessin geht es ohne

Allerdings «wird Englisch in der italienischsprachigen Schweiz derzeit insgesamt weniger verwendet als in anderen Sprachregionen», sagte ein Sprecher unter Berufung auf Daten des Bundesamts für Statistik aus dem Jahr 2019.

Diese Grafik zeigt, dass Schweizer Arbeitnehmende in der französisch- und deutschsprachigen Schweiz etwa doppelt so häufig Englisch wie eine andere Landessprache sprechen, während die Situation in der italienischsprachigen Region viel ausgeglichener ist. Nicht-Schweizer, die in der Schweiz arbeiten, verwenden an ihrem Arbeitsplatz noch häufiger Englisch.

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Laut den Tessiner Sprachforschenden ist die geringere Präsenz des Englischen am Arbeitsplatz und die relative Bedeutung der Landessprachen im italienischen Sprachraum «zweifellos» auf das Schulsystem zurückzuführen – vor allem im Tessin, wo die anderen Landessprachen in der obligatorischen Schulzeit Vorrang vor dem Englischen haben (zuerst Französisch, dann Deutsch).

Wenn man in einem Minderheitensprachengebiet arbeite – und die Arbeit auf nationaler oder interregionaler Ebene erfolgen würde –, dann komme man um die anderen Landessprachen kaum herum.

«So kann man sagen, dass im Tessin wenig Bedarf besteht, Englisch als Lingua franca zu verwenden, und dass Kenntnisse in den Landessprachen vorausgesetzt werden können», teilt das Institut mit.

«Englisch wird unerlässlich»

Englisch wird also nicht als störender Eindringling gesehen? «Auch wenn man im Tessin eine gewisse Bedeutung des Englischen in der Berufswelt feststellt, kann man sicher nicht von einem Problem mit dem Englischen sprechen, jedenfalls nicht im Sinne einer realen Gefahr, dass das Englische das Italienische verdrängen könnte.»

Aber könnte Englisch Französisch oder Deutsch verdrängen? Durham schreibt, dass bei der Kommunikation mit einem breiteren, mehrsprachigen Publikum wie im Internet üblich «im Schweizer Kontext weder Französisch noch Deutsch als Hauptsprache dienen kann. Englisch wird also unerlässlich.»

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SWI swissinfo.ch hat zehn Sprachabteilungen und Redaktionssitzungen werden auf Englisch abgehalten. Es ist auch nicht ungewöhnlich, zwei Schweizer Kollegen zu hören, die sich auf Englisch unterhalten. Gemeinsame Sprachen gibt es auch zwischen bestimmten Personen. So spreche ich zum Beispiel mit zwei Mitgliedern der chinesischen Abteilung Deutsch, mit einem anderen Französisch und mit dem vierten Englisch.

Morrissey, ein deutschsprachiger Schweizer mit Englisch als Muttersprache, sagt, dass auch er persönliche Erfahrungen mit Englisch als Lingua franca gemacht hat.

Wohler auf Englisch

«In meiner Dissertation ging es um die Sprachenwahl in der zweisprachigen Erziehung in der Schweiz. Und eine der Personen, mit denen ich viel Kontakt hatte, war eine Journalistin von L’Hebdo, einer in Lausanne ansässigen Wochenzeitung. Und wir beide fühlten uns eigentlich viel wohler, wenn wir miteinander Englisch sprachen, denn mein Französisch ist überhaupt nicht gut, und ihr Deutsch – na ja, sie schob es auf ihre Schulerfahrung.»

Sie erklärte die Standarderfahrung von französischsprachigen Schweizerinnen und Schweizern: Sie lernen «gutes» Hochdeutsch, und dann bestehen ihre Landsleute auf Dialekt. «Das ist natürlich ein Anreiz zu sagen: ‹Ok, vergesst es – wir nehmen die Sprache, die uns beiden den gleichen Aufwand verursacht›.»

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2016 schrieb Durham, dass die wichtigste Entwicklung in Sachen Englisch als Lingua franca im Umstand zu finden war, mit wem die Schweizer Englisch sprachen.

«Ursprünglich wurde Englisch vor allem mit Touristen verwendet, aber in den letzten zwei Jahrzehnten wurde es von Schweizern zunehmend auch untereinander verwendet, was es zu einer intranationalen Lingua franca machte und Englisch de facto zu einer Schweizer Sprache werden liess.»

«Das Ende der Schweiz»?

Die Schweizer Regierung veröffentlicht bereits viele Pressemitteilungen auf EnglischExterner Link. Dennoch kriegen viele Schweizer rote Köpfe, wenn Englisch als eine Schweizer Sprache bezeichnet wird.

Im September 2000 verkündete der Bildungsdirektor des Kantons Zürich, dass Englisch die erste Fremdsprache sein wird, die in den Schulen unterrichtet wird – und nicht Französisch. Am nächsten Tag fragte die französischsprachige Zeitung Le Temps, ob die Aufnahme von Englisch in den Lehrplan des Kantons das «Ende der Schweiz» bedeute.

Diesen Satz hatte auch die Tessiner Politikerin Chiara Simoneschi-Cortesi 2009 verwendet, als sie Nationalratspräsidentin war und davor warnte, was ihrer Meinung nach passieren würde, wenn Englisch die Kommunikationssprache zwischen den Schweizern würde.

Vor allem in den französisch- und italienischsprachigen Landesteilen befürchten viele, dass Englisch im Unterricht vor den Schweizer Landessprachen den sozialen Kitt, der die Schweiz zusammenhält, auflösen würde.

«Dass Englisch nützlich ist, bedeutet nicht, dass es für alles nützlich ist», schlussfolgerte eine Studie der Universität Genf zu Sprachen und Wirtschaft im Jahr 2016. «Um die französischsprachige Schweiz zu verstehen, muss man Französisch sprechen. Um die deutschsprachige Schweiz zu verstehen, muss man Deutsch sprechen und zumindest ansatzweise Schweizerdeutsch verstehen.»

2017 haben die Stimmberechtigten im Kanton Zürich entschieden, dass Schüler weiterhin Englisch ab dem siebten und Französisch ab dem elften Lebensjahr lernen sollen.

Zwei gute Argumente

Wenn es um die Frage geht, ob Englisch oder eine Landessprache unterrichtet werden soll, gibt es laut Morrissey zwei Argumente. «Die nutzwertorientierte Argumentation spricht für Englisch. Und tatsächlich ist die Debatte in Zürich und anderen Orten so gelagert gewesen», sagt er. Mit anderen Worten: Englisch wird als nützlicher für Deutschsprachige angesehen als Französisch oder Italienisch.

«Das andere Argument, jenes des nationalen Zusammenhalts, ist ziemlich alt. Inwieweit es tatsächlich greift, weiss ich nicht. Ich attestiere der Schweiz einen ziemlich starken Zusammenhalt. Es gibt ein nationalistisches Element und ein wirtschaftliches dabei. Ich glaube nicht, dass die Sprache eine so grosse Rolle spielt. Aber sie ist eine Art Banner, hinter dem wir uns gerne versammeln», sagt er.

«Aber wenn die Leute die Landessprache des anderen nicht sprechen könnten – Italienisch und Rätoromanisch sind ein Beispiel dafür – würde das Land wohl kaum auseinanderfallen.»

Englisch zu sprechen ist also kein Problem? «Ich weiss nicht, ob es ein Problem ist. Wenn es der Kommunikation hilft, dann ist es sicher keine schlechte Sache. Es lässt wohl das Sprachrepertoire, das man haben könnte, etwas verarmen. Aber ich glaube nicht, dass man das verhindern kann, denn der Mensch nutzt jeden Kommunikationskanal, der funktioniert», sagt er. «Kommunikation nimmt den Weg des geringsten Widerstands, sie ist der Inbegriff dafür.»

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Gastgeber/Gastgeberin Thomas Stephens

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Immer mehr Menschen in der Schweiz benutzen Englisch in ihrem Alltag. Ist das eine Bedrohung für das Land? Oder eine Chance? Sollte die Schweiz Englisch sogar als 5. Landessprache festlegen? Zum Artikel Englisch als Landessprache: Go oder No-Go?

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