Im reichen Zürich sprechen die Leute nicht mehr miteinander
Zürich ist eine Stadt, in der das Deponieren von Millionen auf einer Bank einfacher ist als jemandem in die Augen zu schauen. Der Debut-Spielfilm des Schweizers Cyril Schäublin, "Dene wos guet geit", tritt am Filmfestival Locarno in der Wettbewerbsreihe "Cineasti del presente" an. Es ist ein intelligentes und sensibles Porträt einer Stadt, die zwischen Armen und Reichen, Jungen und Alten geteilt ist.
Alice arbeitet in einem Callcenter in der Peripherie von Zürich, zusammen mit anderen jungen Angestellten. Jeder vor seinem Bildschirm, die Ohren mit Kopfhörern bedeckt, verkaufen sie Internet-Abos oder Versicherungsprodukte an Unbekannte, die das Telefon abnehmen. Die einsamen Betagten sind leichte Beute in einer Gesellschaft, in der Alter mit Altenheim gleichgesetzt wird. Ab hier beginnt die von Cyril SchäublinExterner Link beschriebene Einsamkeit.
Die Handlung des Films kreist um Alice, die ihre auf der Arbeit geknüpften Kontakte für einen «Enkeltrick» nutzt und Betagte um ihr Geld bringt. Die Beute? Mehr als 820’000 Franken, welche die junge Frau ohne Probleme auf einer Bank deponiert. Der sie bedienende Angestellte trägt weisse Handschuhe, als ob er sich vor dem schmutzigen Geld schützen wollte. Nach Alice kommt ein russischer Magnat an die Reihe, dessen Kontostand sich auf Millionen beläuft.
Denen es gut geht
Das Gefälle zwischen Sicherheit und Prekariat ist offensichtlich. Der Film heisst nicht zufällig «Dene wos guet geit» («Denen es gut geht»), nach einem Liedtitel des bekannten Berner Mundartsängers Mani Matter über die Verteilung von Reichtum.
Der Film schneidet noch ein weiteres wichtiges Thema an: Den Mangel an Gesprächen in einer technologisierten Gesellschaft. «Wir wollten besser verstehen, wie die Menschen sprechen, welche Sprache sie nutzen, und diese auf dem Bildschirm reproduzieren», sagt der 33-jährige Regisseur. «Wer im Tram oder an einem öffentlichen Ort in Zürich die Ohren offen hält, merkt schnell, dass sich die Diskussionen stets um Themen wie Kosten für Krankenkasse, Internet oder Ähnliches drehen.»
Ein Dialog, in der Zahlen und Technologie dominieren, und dem jeglicher Tiefgang abgeht. Während die Leute dauernd mit Internet verbunden sind und so ständig «fichiert» werden, scheinen sie gleichzeitig unfähig, sich zu erinnern, anzuschauen und miteinander zu sprechen. Oder besser gesagt: Die Menschen reden zwar, aber ohne viel zu sagen.
Es ist ein düsteres Porträt einer Stadt, die Schäublin eigentlich liebt. «Ich wurde in Zürich geboren und fühle mich der Region sehr verbunden. Die Stadt hat sich in den letzten Jahren stark verändert, viele Häuser wurden abgerissen, und die Einwohner werden in die Peripherie verdrängt. Es ist ein klassischer Prozess der Gentrifizierung.»
Junger Kosmopolit kehrt nach Locarno zurück
Geboren und aufgewachsen in Zürich studierte Cyril Schäublin zunächst in Peking an der Central Academy of Drama Mandarin und Kinogeschichte. An der Filmakademie Berlin war er später Schüler des berühmten philippinischen Regisseurs Lav Diaz (Goldener Leopard in Locarno 2014). Schäublin drehte mehrere Kurzfilme und war unter anderem persönlicher Assistent des palästinensischen Regisseurs Kamal Aljafari.
Es ist nicht Schäublins erstes Mal in Locarno: 2013 nahm er an der Filmmakers Academy teil. Ein Beweis, dass Locarno ein wichtiger Ausbildungsort und ein Sprungbrett für die Jungen sein kann.
Filmemacher in der Schweiz zu sein, ist nicht immer einfach, aber Schäublin zählt sich zu den Privilegierten. «In diesem Land lebt man gut, und wir können in Ruhe Filme machen», sagt er. Um vollkommen frei zu sein, befolgte der junge Mann den Rat seiner Mentoren: «Den ersten Film muss man allein machen.» So hat er 2017 mit seinem Freund Silvan Hillman in Zürich die Produktionsfirma Seeland Filmproduktion gegründet. Der Film «Dene wos guet geit» wurde von der Kritik positiv aufgenommen. Bald erfahren wir, ob er auch die Jury für einen Preis in der Kategorie «Cineasti del presente» überzeugen konnte.
(Übertragung aus dem Italienischen: Sibilla Bondolfi)
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