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Die Dubois-Affäre oder als die Schweiz an die Grenzen der Neutralität ging

Szene aus dem Comic
Staatsanwalt Dubois in Berner Strassen der 1950er-Jahre aus der Sicht des Zeichners Matthieu Berthod. Editions Antipodes

Ein druckfrischer Comic beleuchtet das tragische Schicksal des Bundesanwalts René Dubois, der sich 1957 das Leben nahm. Die heute weitgehend vergessene Spionageaffäre im Herzen von Bundesbern erregte damals enormes Aufsehen, sowohl in der Schweiz als auch im Ausland.

Der Comic «Berne, nid d’espions / L’affaire Dubois 1955-1957» von Eric Burnand und Zeichner Matthieu Berthod blickt auf den Werdegang von René Dubois zurück, von seinem Aufstieg zum Bundesanwalt bis zu seinem Tod zwei Jahre später.

Die Geschichte wird durch die Augen von Dubois selbst erzählt. Wir sehen ihn auf seinem Dachboden, wenige Augenblicke, bevor er sich eine Kugel in den Mund schiesst. In dieser Erzählung im Präsens laufen die Bilder des Comics auf einer schwarzen Farbtafel ab.

Dubois erinnert sich an die verschiedenen Etappen, die ihn zu seiner fatalen Tat führten: sein Aufstieg zum Leiter der Bundesanwaltschaft, seine Annäherung an den französischen Geheimdienst, die Turbulenzen des Algerienkriegs und die Enthüllungen der Presse, die zu seinem Sturz führten.

In diesen Rückblenden, die den Grossteil der Erzählung ausmachen, sind die Bilder wieder in der traditionellen weissen Farbe der Comicbögen gehalten. Um dem Verlauf der Geschichte gut folgen zu können, werden einige Schlüsselfiguren auf einer ganzen Seite mit einer Zeichnung und einer Biografie vorgestellt.

Nest der Spione

Die Tribune de Genève hatte enthüllt, dass die Schweizer Bundespolizei die ägyptische Botschaft abhört und Informationen an Frankreich weiterleitet. Nassers Ägypten stand damals an der Spitze des Panarabismus und unterstützte die algerischen Unabhängigkeitskämpfer.

René Dubois, der auch als Chef der Spionageabwehr fungierte, nahm sich am 23. März 1957 das Leben, mit der Absicht, einen Skandal zu vermeiden.

Auf den ersten Blick scheint der Fall einfach. Doch in Wirklichkeit sind die Dinge viel komplizierter und alle Zutaten für einen echten Spionageroman oder -film vorhanden: Doppel- oder sogar Dreifachagenten, die CIA, Manipulationen, Korruption, politischer Druck, Erpressung, bewaffnete Konflikte…

ein Mann mit Schnauz und Krawatte
Ein Porträt von René Dubois (1908-1957), aufgenommen am 1. März 1949. Keystone / Rev

Und das alles in Bern, der Hauptstadt der friedlichen Schweiz. Aber das ist nicht wirklich überraschend.

Schon während des Zweiten Weltkriegs fungierte die neutrale Schweiz als Drehscheibe für Geheimdienstler:innen und als Treffpunkt für Diplomat:innen. Im Kontext des Kalten Krieges blieben die diplomatischen Vertretungen wahre Spionagenester.

Nur harte Fakten

Dubois wurde also von den französischen Geheimdiensten angesprochen und sogar persönlich mit seiner Frau nach Paris eingeladen.

Aus den Archiven geht hervor, dass er anschliessend in einem Brief einem Informationsaustausch mit den französischen Diensten zugestimmt hatte.

Aber fand dieser Austausch im Rahmen einer «normalen» Zusammenarbeit zwischen befreundeten Ländern statt, oder steckte mehr dahinter?

Mit anderen Worten: Wurde René Dubois von den französischen Geheimdiensten manipuliert? Wurde er wissentlich von amerikanischen Diensten verpfiffen, die wütend waren, dass ihre Zusammenarbeit mit der FLN durch die Schweizer Abhöraktionen aufgedeckt wurde?

Schwer zu sagen. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass Dubois stark unter Druck gesetzt wurde. «Vor einigen Jahren behauptete ein inzwischen verstorbener Zeitzeuge, Dubois sei erpresst worden, wollte aber die Art der Erpressung nicht näher erläutern», sagt der Autor Eric Burnand.

Ein aussereheliches Abenteuer während der Reise nach Paris könnte das Druckmittel für diese mögliche Erpressung sein. Es wird auch eine Romanze zwischen Dubois und der Pressesprecherin der französischen Botschaft, Élisabeth de Miribel, vermutet, die damit berühmt geworden war, dass sie 1940 den «Appell vom 18. Juni» von General de Gaulle mit der Schreibmaschine abgetippt hatte.

Der Comic deutet diese Möglichkeiten nur vage in einer Zeichnung an, zum Beispiel im Bild, das Dubois in Gesellschaft von Pariser Tänzerinnen zeigt, behauptet wird aber nichts. Der Grossteil der Erzählung beruht auf Fakten, die in den Archiven nachzulesen sind.

Cover des Comics
Das Titelbild des Comics Editions Antipodes

Die Neutralität in Frage gestellt

Damals löste der Selbstmord des Staatsanwalts einen riesigen Skandal aus. Die Neue Zürcher Zeitung schrieb: «Es handelt sich um eine der schmerzhaftesten und schwerwiegendsten Affären, die wir seit der Gründung des Bundesstaates erlebt haben.»

Auch auf der linken Seite, z. B. bei der Voix ouvrière, war man sich einig, dass es sich um den «schwersten politischen Skandal in der modernen Schweiz» handelte.

Aber auch im Ausland fand die Affäre ein enormes Echo. Die Tatsache, dass die Schweiz Informationen, die sie durch das Abhören einer Botschaft gesammelt hatte, an Frankreich weiterleitete, stellte ihre traditionelle Neutralität in Frage.

Für die deutsche Tageszeitung Münchener Merkur war der Fall «ein Ausdruck politischen Unbehagens, das mit der fortschreitenden Erosion der Schweizer Neutralität korrespondiert». Die ägyptische Tageszeitung Ahbar el-Yom kritisierte «eine schwere Verletzung der Neutralität».

In der angelsächsischen Presse widmete die Sunday Times dem Fall eine ganze Seite. In ihrem Artikel, der in der gesamten internationalen Presse von den USA bis Japan aufgegriffen wurde, hiess es: «Die Dubois-Affäre, der grosse Spionagefall, den die Landesregierung jetzt untersucht, hat das Bild einer mit ihrer Neutralität zufriedenen Schweiz inmitten des Kalten Krieges zerstört.»

Vertuschte Affäre

Die Schweizer Behörden beendeten den Skandal schnell. Auf strafrechtlicher Ebene wurde der Inspektor der Bundespolizei Max Ulrich, der Informationen an die französischen Dienste weitergegeben hatte, nach einem Prozess hinter verschlossenen Türen zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt – eine relativ milde Strafe.

Auf politischer Ebene verfasste der Bundesrat einen Bericht, in dem Inspektor Ulrich als Hauptverantwortlicher und René Dubois als Teilverantwortlicher für die Weitergabe der Informationen bezeichnet wurden.

Dieser Bericht, der betonte, dass keine anderen Bundesbeamten involviert waren, wurde von allen Mitgliedern des Parlaments mit Ausnahme der vier kommunistischen Abgeordneten angenommen.

Die Dubois-Affäre hatte jedoch eine direkte politische Konsequenz. Infolge des Skandals lockerte der Bundesrat seine Haltung gegenüber der FLN, was es der Schweiz ermöglichte, eine entscheidende Rolle im Abkommen von Evian zu spielen, welches das Ende des Algerienkriegs markierte.

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Eher kein Verräter

Der Fall wurde daher schnell vertuscht, bis er praktisch aus der Erinnerung verschwunden war. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts tauchte er schliesslich mit der Öffnung der Archive wieder auf.

Es wurde bereits eine wissenschaftliche Arbeit über das Thema verfasst, die jedoch auf akademische Kreise beschränkt blieb. 

Der soeben im Antipoden-Verlag erschienene Comic könnte das Interesse der breiten Öffentlichkeit an dem Thema wieder wecken.

Nach der Lektüre bleibt jedoch eine Frage offen. War René Dubois unschuldig oder schuldig? Der Historiker und ehemalige Journalist Éric Burnand tendiert eher zur ersten Option.

«Er hat vielleicht Informationen über das erlaubte Mass hinaus ausgetauscht, aber er war nicht schuldig. Er war eher eine Stütze als ein Verräter.»

Französischsprachiges Interview mit Eric Burnand:

Externer Inhalt

Übertragung aus dem Französischen: Janine Gloor

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