Die erste Ausstellung in der eigenen Küche
Der Schweizer Hans Ulrich Obrist habe dieses Jahr am meisten Einfluss auf die Kunstbranche. Zu diesem Schluss kam das englische Kunstmagazin ArtReview. Obrist ist zur Zeit CO-Direktor an der Serpentine Gallery in London.
Jedes Jahr veröffentlicht die ArtReview eine Liste der mächtigen Personen in der Kunstbranche. Es sind Künstler, Galeristen, Sammler und Kuratoren. Die Redaktion berücksichtigt in ihrer Bewertung das internationale Gewicht, den Einfluss auf die Schaffung von Kunstwerken, die Bedeutung auf dem Kunstmarkt und welchen Beitrag die Kandidaten im vergangengen Jahr für die Kunst geleistet haben.
swissinfo.ch: Warum vermuten Sie, dass Sie die Liste der ArtReview anführen?
Hans Ulrich Obrist: Ich tue, was ich seit zwanzig Jahren immer tue, ich organisiere Ausstellungen. Ich kann nicht beurteilen, warum ich zuoberst auf die Liste gesetzt wurde. Ich glaube, dass es in der Kunstwelt vor allem um die Künstler und Künstlerinnen geht. Ohne sie gäbe es keine Kunstwelt.
Meine ganze Arbeit ist ein Versuch, der Kunst nützlich zu sein und Realität für die Kunst zu produzieren. Insofern waren für mich die Künstler immer die wichtigsten Protagonisten der Kunstwelt oder sogar auf der Welt.
Das ist der Grund, weshalb ich mich als Teenager entschlossen habe, mit Kunst und Künstlern zu arbeiten und warum ich den Beruf des Kurators ausübe. Wie die britischen Künstler «Gilbert & George» so schön sagen, «To be with Art is all we ask».
swissinfo.ch: Was bedeutet es für Sie, in der Kunstwelt «mächtig» zu sein?
H.U.O.: Mich hat Macht nie interessiert. Ich bin getrieben von einer Notwendigkeit, Ausstellungen und Bücher zu machen. Man ist inmitten der Dinge, nicht im Zentrum, es ist eine Vermittlungsarbeit.
Es gibt sehr viele Projekte von Künstlern und Künstlerinnen, die nicht realisiert werden, weil sie einfach in den Gegebenheiten unserer Gesellschaft nicht stattfinden können. Sie passen nicht in die existierenden Institutionen, sie sind zu gross, zu utopisch, zu klein, was auch immer.
Ich habe oft Künstler nach unrealisierten Projekte gefragt und versucht, diese dann umzusetzen. Das ist, worum es mir wirklich geht. Es geht darum, Künstlerträume Wirklichkeit werden zu lassen und unrealisierte Projekte durchzuführen. Das ist eines meiner Ziele.
swissinfo.ch: Sie sagen: «Künstler sind die wichtigsten Personen der Welt». Wie kommt es, dass Sie es so sehen?
H.U.O.: Als ich ein Teenager in der Schweiz war, liebte ich Museen und Ausstellungen. Ich habe zum Beispiel «Der Hang zum Gesamtkunstwerk» von Harald Szeemann etwa dreissig Mal gesehen.
Das war meine Ausbildung. Bald darauf habe ich begonnen, mich mit Künstlern zu treffen. Meine frühe Begegnung mit dem Schweizer Künstlerduo Fischli/Weiss haben die Art verändert, wie ich über Kunst denke.
swissinfo.ch: Was wollten Sie zeigen, als sie mit Ausstellen begannen?
H.U.O.: Ich wusste nicht, wo ich beginnen sollte. 1991 schlugen Fischli/Weiss und der französische Künstler Christian Boltanski vor, meine erste Ausstellung in meiner Küche zu machen, in St. Gallen, wo ich studierte. Ich habe zu dieser Zeit nie gekocht.
So haben diese Künstler meine Küche übernommen und aus ihr einen Platz für Kunst gemacht. Sie brachten sogar Lebensmittel mit. Es gab einen grossen Altar von Fischli/Weiss. Hans-Peter Feldmann stellte im Kühlschrank aus und der britische Künstler Richard Wentworth zeigte sein Werk im Abwaschbecken.
Er gab der Ausstellung ihren Titel: World Soup. Die Ausstellung dauerte drei Monate und es kamen 29 Besucher. Es war eine eher intime Angelegenheit.
Alle meine frühen Ausstellungen haben in der Schweiz stattgefunden. Nach «World Soup» habe ich eine mit Boltanski in einer Klosterbibliothek realisiert. Anschliessend habe ich Gerhard Richter im Nietzsche Haus in Sils Maria ausgestellt.
Ich war zu dieser Zeit von dem visionären Schriftsteller Robert Walser begeistert und die Idee war, in diesem Restaurant, in dem er jeweils auf seinen langen Märschen im Appenzell Pause machte, ein kleines Museum einzurichten.
Aus diesen sehr kleinen Ausstellungen an seltsamen Orten erwuchs die Zusammenarbeit mit grossflächigen Museen, insbesondere mit dem Museum of Modern Art in Paris.
swissinfo.ch: Und was bringt diese Auszeichnung ausser Popularität?
H.U.O.: Für mich ändert es nichts daran, dass ich eine sehr auf den Künstler oder die Künstlerin fokussierte Idee der Kunstwelt habe.
Es gibt sicher nun mehr Diskussionen über das Kuratieren, über die Ausstellung als Medium. Ausstellungen sind nicht permanent. Sie sind momentane Erscheinungen und lösen sich dann wieder auf.
Und die Art und Weise, wie nun der Fokus auf das Ausstellungsmachen und das Kuratieren gelegt wird und dadurch auch Erinnerungen geschaffen werden, scheint mir interessant.
Ich habe dieses Jahr mit Lionel Bovier «Die kurze Geschichte des Kuratierens» (The Brief History of Curating) herausgegeben. Es war mein Versuch gegen das Vergessen zu protestieren.
Eric Hobsbawn, ein englischer Historiker, sagte mir: «Wir brauchen einen dringenden Protest gegen des Vergessen.» Und es gibt so viele grossartige Ausstellungsmacher aus den früheren Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts, die mich inspiriert haben. Ich finde es sehr wichtig, dass man heute nicht nur an sie erinnert, sondern auch an diese visionären Ausstellungen, die sie gemacht haben.
Wir können sehr viel vom schwedischen Ausstallungsmacher Pontus Hulten lernen. Seine grossartige Ausstellung in der sechziger Jahren in Stockholm über Poesie war für mich eine grosse Inspiration für den Poesie-Marathon in London.
Auch Hultens Ausstellungen im Centre Pompidou wie Paris-Moskau, Paris-New York sind einfach grandios. Also insofern denke ich, ist diese Idee einer dynamischen Erinnerung an der Ausstellungsgeschichte in der Gegenwart sehr wichtig und eben wie Eric Hobsbawm sagt, «ein Protest gegen das Vergessen».
Andrew Littlejohn, London, swissinfo.ch
(Adaption Eveline Kobler)
Hans Ulrich Obrist wurde im Mai 1968 in Zürich geboren. Er wurde im April 2006 Co-Direktor der Ausstellungen und Programme internationaler Projekte in der Serpentine Gallery.
Er arbeitet dort mit Julia Peyton-Jones, der Direktorin der Gallerie, zusammen. Vorher war er Kurator des Musée d’Art Modern de la Ville de Paris. Obrist hat über 200 internationale Einzel- und Gruppenausstellungen realisiert.
Die «Serpentine Gallery Marathon»-Serie rief er im Jahr 2006 ins Leben. Der erste Teil, der «Interview Marathon», beinhaltet Interviews mit führenden Persönlichkeiten der Gegenwartskunst von über 24 Stunden, geführt von Obrist und dem Architekt Rem Koolhaas.
Die letzten Publikationen: A Brief History of Curating(JPP Ringier), The Conversation Series(Koenig),Gerhard Richter Text(Koenig/Thames&Hudson).
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