«Die Frauen des Films müssen sichtbarer werden»
Sie ist die erste Schweizer Regisseurin, die einen Goldenen Leoparden gewonnen hat. Acht Jahre nach "Das Fräulein" kehrt Andrea Staka mit einem neuem Film über Exil, Identität und Frauen nach Locarno zurück. Der in Dubrovnik gedrehte Film "Cure – Das Leben einer Anderen" könnte Staka einen weiteren Leoparden bringen.
swissinfo.ch: Die Themen Exil und Identität sind der rote Faden in Ihren Filmen. Sie stellen die Frage: Was bedeutet es, am Ort, an dem man lebt, fremd zu sein? Haben Sie eine Antwort gefunden?
Andrea Staka: Nach jedem Film denke ich, dass ich die Antwort habe, dass ich etwas mehr weiss, wer ich bin, wohin ich gehöre. Ob ich mich für eine Seite entscheiden muss oder nicht. Doch nach einer gewissen Weile fange ich wieder bei Null an. Für mich ist Identität etwas, das sich bewegt. Es ist wie Magma. Es gibt Tage, an denen ich meine Wurzeln spüre, mich verankert fühle, andere, an denen ich das Gefühl habe, aus verschiedenen Facetten zu bestehen, die aufeinander prallen.
Die Herausforderung von «Cure – Das Leben einer Anderen» war, über die dunkle Seite von Identität zu sprechen, darüber, was sie provoziert. Aufzuzeigen, dass diese Krise auch zu Aggressivität führen kann, zum Wunsch, einen Teil von sich selber verschwinden zu lassen.
swissinfo.ch: Frauen sind oft im Zentrum dieser Suche. Im Film sieht man Männer, die vom Krieg gezeichnet, abwesend oder ohne Gefühle sind. Weshalb diese Konzentration auf die Frauen?
A. S.: Ich bin selber eine Frau, es ist natürlich. Zudem komme ich aus einer von Frauen dominierten Familie. Das ist auch ein Thema des Films: diese Familie, sehr weiblich, aber auch brutal, manipulativ mit Emotionen.
In «Cure» sind die Frauen sehr präsent, weil der Film in Dubrovnik spielt, einer Stadt von Seeleuten. Die Männer arbeiten auf dem Meer – oder sie sind im Krieg. Und die Frauen hinter diesen Männern organisieren sich wie ein mafioser Verein, dessen Waffen emotionale Verbindungen sind.
Einerseits stelle ich fest, dass Frauen im Film auch heute noch nicht denselben Platz einnehmen wie Männer, sei es als Regisseurinnen oder als Protagonistinnen. Ich verstehe das nicht als eine politische Mission, sondern eher als Frage des kritischen Denkens: Ich finde es normal, sie sichtbar zu machen.
Während des Kriegs sah man am Fernsehen nur Männer und alte Frauen. Ich sah keine Bilder von modernen, jungen Frauen. Als ich dann begann, Filme zu machen, wollte ich diesen Frauen, die auch etwa so sind wie Sie und ich, Platz einräumen.
Szenario
1993, ein Jahr nach der Belagerung Dubrovniks durch serbische Truppen, verlässt Linda die Schweiz und kehrt mit ihrem Vater in dessen Heimatstadt zurück. Ihre neue Freundin Eta nimmt sie mit in die steilen Hügel oberhalb der Stadt am Meer. In dem von Minen verseuchten Wald kommt es zu einem herausfordernden Rollenspiel der beiden Teenager, sie tauschen Kleider und Identität. Am nächsten Tag kehrt Linda allein zurück: Eta ist von den Felsen gestürzt. Unfall oder nicht? Ab diesem Moment findet sich Linda immer wieder Etas Geist gegenüber, Symbol der Dualität ihrer Wurzeln, die in der Schweiz und Kroatien liegen.
swissinfo.ch: Dieses Mal sind Sie das Risiko eingegangen, auf zwei sehr junge und unerfahrene Schauspielerinnen zu setzen…
A. S.: Es war mir sehr wichtig, zwei Mädchen auszuwählen, die zur Zeit der Dreharbeiten tatsächlich 14 Jahre alt waren, denn die Pubertät ist eine Zeit des Übergangs, des Entdeckens. Schauspielerinnen zu haben, die wirklich in dieser Lebensphase standen, machte es möglich, dass der Film ehrlicher wurde.
Sylvie und Lucia haben ihre Rollen sehr schnell verstanden, sie waren wie Schwämme. Sie absorbierten die Themen und die Atmosphäre des Films. Doch manchmal ist es schwierig, natürlich zu bleiben, wenn man Szenen vor vielen Leuten wiederholen muss. Ich sorgte daher dafür, dass sie vor einem Dreh immer rannten, denn, wenn wir rennen, spüren wir unseren Körper, ohne zu viel Gedanken darauf zu verschwenden.
swissinfo.ch: Ein weiteres wiederkehrendes Thema ist der Krieg, den man in «Cure» aus einiger Entfernung sieht. War das für Sie auch so?
A. S.: Ich war oft in Dubrovnik, bei meiner Grossmutter, und hatte dort ein normales Leben. Merkwürdigerweise auch während des Kriegs. Meine Grossmutter kochte für mich, ich ging am Abend mit meinen Freunden aus und am Horizont sah man dieses Feuer. Es war Krieg in Bosnien, doch niemand sprach darüber. Als ob wir uns in einer Seifenblase befunden hätten. Es war absurd. Ich finde, dass nicht genug über diese Ambiguität gesprochen wurde, diese Zwischenphase, die mich selber interessiert.
swissinfo.ch: Sie waren 2006 die erste Schweizer Frau, die einen Goldenen Leoparden gewann. Und sie gehören zu den treibenden Kräften einer neuen Generation von Filmemachern der 90er-Jahre. Ist die Schweizer Filmindustrie noch immer zu männlich?
A. S.: In der Schweiz sieht es nicht so schlecht aus, denkt man an Ursula Meier, Bettina Oberli, Ruxandra Zenide, Milagros Mumenthaler. Aber ich betrachte mich auch als europäische Bürgerin, und ich finde, dass es in Cannes oder Berlin nur sehr wenig Filme von Frauen gibt. Man kann die Dinge nicht erzwingen, aber unter Regisseurinnen versuchen wir, uns gegenseitig zu unterstützen. Das ist kein Problem, das man mit einem Manifest regeln kann, wir müssen Filme machen. Unsere Mission ist es, weiterhin Filme zu drehen, damit mehr junge Frauen sehen, dass dies möglich ist, mit oder ohne Familie.
Andrea Staka
Andrea Staka ist 1972 in der Schweiz geboren, ihre Mutter stammt aus Bosnien, ihr Vater aus Kroatien. Das Thema Exil ist ein zentraler Aspekt ihrer Arbeit. In Yugodivas (2000), den sie in New York drehte, porträtierte Staka fünf aus dem ehemaligen Jugoslawien emigrierte Künstlerinnen.
2006 gewinnt sie mit «Das Fräulein» als erste Schweizer Regisseurin einen Goldenen Leoparden am Filmfestival Locarno. Es ist ihr erster Spielfilm und erzählt die Geschichte dreier Immigrantinnen aus dem Balkan in der Schweiz.
2007 gründet sie mit ihrem Lebenspartner und Kollegen Thomas Imbach die Produktionsfirme Okofilm. «Cure – Das Leben einer Anderen» läuft in Locarno im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden.
swissinfo.ch: 2007 haben Sie mit Ihrem Mann und Kollegen Thomas Imbach eine Produktionsfirma gegründet. Wieso brauchte es das?
A. S.: Es ist einfach: Wir wollen, dass unsere Filme uns gehören. Zudem finde ich, dass Regie und Produktion eines Films zwei Dinge sind, die zusammen gehören. Es ermöglicht uns auch, einen eigenen Rhythmus für die Dreharbeiten und die Montage zu finden, nicht abhängig sein zu müssen von externem Druck. In Europa gibt es eine starke Tradition von Filmemachern, die ihre eigenen Filme produzieren.
swissinfo.ch: Können Sie als Produzentin auch eine andere Art Filme unterstützen?
A. S.: Ja, wir versuchen, ein persönliches, radikales Filmemachen zu unterstützen, das über Grenzen hinweg verführen kann. Manchmal gelingt dies, manchmal aber auch nicht, das ist normal. Ein Film ist ein Projekt, nichts Starres.
swissinfo.ch: Wird der Ausschluss der Schweiz vom europäischen Filmförderungsprogramm MEDIA direkte Auswirkungen auf Ihre Arbeit haben?
A. S.: Es ist für uns als Produzenten und Filmemacher ein grosses Problem. Europäische Filmverleiher hatten dank dem MEDIA-Programm Schweizer Filme besser vermarkten können, denn sie erhielten einen finanziellen Anreiz. Dies gilt für Filme aus allen Ländern, die mit MEDIA assoziiert sind. Doch ohne diese Anreize ist der Schweizer Film zu klein, um gegen die Konkurrenz aus Ländern bestehen zu können, deren Filmindustrie viel stärker entwickelt ist. Es ist ein Schritt zurück: Jetzt kommen wir mit unseren Filmen zwar in Schweizer Kinos, aber damit hat es sich dann.
swissinfo.ch: Die neue Kulturstrategie der Schweiz befindet sich derzeit in der Vernehmlassung. Denken Sie – als ehemaliges Mitglied der Eidgenössischen Filmkommission –, dass die Erhöhung des Budgets für das Schweizer Filmschaffen um 6 Millionen ausreicht, oder müsste man auch anderweitig aktiv werden?
S.: Zurzeit gibt es kein klares Modell für die Bewertung jener Filme, die von der Eidgenossenschaft finanziell unterstützt werden sollen. Die Kommissionen sollten nicht mit Leuten aus der Industrie besetzt sein, mit Freunden, die Freunde, oder Feinden, die Feinde beurteilen. Sie sollten unabhängig besetzt sein. Ich vertrete die Idee eines Systems, in dem eine Person die Filme auswählt und dafür die Verantwortung übernimmt. Kunst ist ein Bereich, der für eine demokratische Stimmabgabe schlecht geeignet ist!
Schauspielerinnen und Schauspieler
Linda: Sylvie Marinkovic
Eta: Lucia Radulovic
Etas Grossmutter: Mirjana Karanovic
Etas Mutter: Marija Skaricic
Lindas Vater : Leon Lucev
Ivo: Franjo Dijak
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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