Die Stimmen der Heimat
Das Phonogrammarchiv der Uni Zürich feiert seinen 100 Geburtstag. Zum Jubiläum erscheint im November eine Neuausgabe der legendären "Stimmen der Heimat", die 1939 zur Stärkung des Heimatgefühls der Landsleute im Ausland aufgezeichnet wurden.
Eine Hörprobe von Aufzeichnungen des Phonogrammarchivs Zürich erlaubt nicht nur, alte, vielleicht ausgestorbene Dialekte wieder zu hören.
Die Aufzeichnungen dokumentieren auch den technischen Fortschritt in Bezug auf Tonaufnahmen in einem Jahrhundert.
Sie geben weiter einen interessanten Einblick in den Umgang mit dem Dialekt in der Schweiz.
Im Jahr 1877 gelang es Thomas Alva Edison zum ersten Mal, eine menschliche Stimme auf einen Tonträger so aufzuzeichnen, dass man sie später wieder hören konnte. Das war eine technische Revolution.
Schweizer Forschungsinteresse
Von nun an war es möglich, Dialekte als Gegenstand der sprachwissenschaftlichen Forschung festzuhalten. «Man wollte die Schweizer Mundarten dokumentieren», sagt Michael Schwarzenbach vom Phonografenarchiv zum damaligen Forschungsinteresse der Uni Zürich.
Der Wiener Germanist Joseph Seemüller nahm als einer der ersten eine Sammlung deutscher Mundarten auf Wachsplatten auf und sandte das darüber publizierte Heft nach Zürich.
Albert Bachmann, Germanistikprofessor in Zürich, wollte sich daraufhin ein solches Gerät ausleihen. Ab Juni 1909 entstanden an der Universität Zürich die ersten selbstständigen Aufnahmen.
Surbtaler Jiddisch
«Auch aussterbende Mundarten wollte man festhalten. Wir haben Aufnahmen von Walserdialekten in Oberitalien, die heute praktisch ausgestorben sind. Auch Surbtaler Jiddisch haben wir. Die Dörfer Endingen und Lengnau im Kanton Aargau waren zwei Gemeinden, in denen Jiddisch gesprochen wurde.»
Die erste Aufnahme, die in Zürich gemacht wurde, war Glarnerdeutsch. Die Studentin Catharina Streiff sprach eine Erzählung in Glarner Mundart in den Kartontrichter des Phonografen. Ab 1910 berücksichtigte man nicht nur die deutschen Dialekte in der Schweiz, sondern auch die der anderen Landessprachen.
1932 kaufte das Phonogrammarchiv schliesslich ein eigenes Aufnahmegerät, mit dem es Stimmen auf Gelatine-Folien aufnehmen konnte. Die diversen Aufnahmen, die damit gemacht wurden, waren aber nicht über alle Zweifel erhaben. Deshalb liess man für die Beteiligung an der Landesausstellung von 1939 in Zürich qualitativ hochstehende Aufnahmen in einem Profi-Tonstudio anfertigen.
Mundartbegeisterung als geistige Landesverteidigung
«In den 30er-Jahren glaubte man beim Phonogrammarchiv, eine gewisse Mundartbegeisterung zu spüren. Es war auch ein Teil der geistigen Landesverteidigung gegenüber Deutschland. Man entschied, eine Sammlung der Schweizer Mundarten zu machen, den Auslandschweizer gewidmet», erzählt Michael Schwarzenbach. Sie sollten sich dadurch mit der Heimat verbundener fühlen.
Pathetisch werden die «Stimmen der Heimat» in einem Prospekt beschrieben: «Es genügt nicht, dass wir uns angeheimelt fühlen von der Sprache unserer Miteidgenossen. Wir sollen, und das geschieht bei andächtigem Abhören dieser Dialektplatten, in den Bann unserer urwüchsigen, schlichten Ausdrucksform kommen und damit in den Bann echtschweizerischen Denkens», steht da.
Urlaut der Heimat
Die 18 Platten erreichten ihr Ziel bei den Auslandschweizern offenbar. Jedenfalls wurden sie mit einigen begeisterten Hörerstimmen weiter beworben: «Die Auslandschweiz wird durch dieses Werk eine schöne und sinnvolle Bereicherung erfahren. Urlaut der Heimat spricht einen hier an. Kein Auslandschweizer wird sich der geheimnisvollen Wirkung dieser Klänge entziehen», schreibt ein Hörer des Auslandschweizer-Werks der NHG.
An der Landesausstellung 1939 in Zürich sind die Platten in der Halle der Hochschulen vorgeführt worden. Um den Besucherinnen und Besuchern zu ermöglichen, dem Wortlaut besser folgen zu können, wurden zusätzlich zwei Textbücher herausgegegen.
«Aus den Protokollen wissen wir, dass an der Landi der Appenzellerdialekt der beliebteste war», sagt Schwarzenbach. Für die Forschern sei der Dialekt von Bosco Gurin der interessanteste gewesen.
Die Karte, auf der an der Landi die Herkunft der jeweiligen Dialekte gezeigt wurden, ist verschollen. Die «Stimmen der Heimat» werden im November vom Phonogrammarchiv der Uni Zürich auf CD editiert.
Neue Technologie: Draht- und Tonbandrekorder
1948 kaufte sich das Phonogrammarchiv zwei Webster Wire Recorder, bei denen das Tonmaterial magnetisch auf einen dünnen Stahldraht aufgezeichneut wurde. Mit diesem Gerät wurden auch die ersten Aufnahmen für den Sprachatlas der deutschen Schweiz gemacht (SDS).
Später lieh sich das Phonogrammarchiv das Tonbandgerät der Uni Bern aus, welches zu Beginn aber nur parallel zum Drahtrekorder benutzt wurde. Man traute der Tonband-Technologie noch nicht ganz.
Mit der beginnenden Digitalisierung der Tontechnik in den 70er-Jahren boten sich für die Dialektologie neue ungeahnte Möglichkeiten. «Man konnte nun mit den Aufnahmegeräten problemlos zu den Leuten nach Hause gehen, man musste sie nicht mehr zu sich ins Studio einladen», meint Schwarzenbach. Das habe die Aufnahmen erleichtert.
Zur Zeit werden im Phonogrammarchiv noch Aufnahmen für Projektarbeiten gemacht. Für flächendeckende Dialektforschungen fehle das Geld, so Schwarzenbach.
Eveline Kobler, Zürich, swissinfo.ch
«Die Stimmen der Heimat» bestanden aus 34 Aufnahmen schweizerischer Mundarten.
Gelesen wurden Texte bekannter Mundartschriftsteller wie Simon Gfeller (Emmental), Rudolf von Tavel (Stadt Bern), Alfred Huggenberger (Thurgau), Josef Reinhart (Solothurn), Traugott Vogel (Zürich) sowie von «Vertretern unseres Volkes», wie es in einer zeitgenössischen Beschreibung heisst.
«Sie reden teils in Prosa, teils in gebundener Form zu uns. Alle Kantone sind zu Wort gekommen.»
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