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Renato Berta, die Hand hinter Meisterwerken des europäischen Kinos

Es schwingt ein bisschen Nostalgie in der Stimme von Renato Berta, Kameramann aus Bellinzona. Nostalgie "für jene kreative Anarchie ohne Bezugspunkte und Barrieren". Keystone

Experimentierfreudig und mutig. Renato Berta hat im Autorenkino des letzten halben Jahrhunderts einen bleibenden Eindruck hinterlassen – als Kameramann. Wegen seines Gespürs für Bild- und Lichtgestaltung reissen sich die grossen Regisseure um ihn. Der heute 71-jährige Tessiner wird mit dem Ehrenpreis des Schweizer Filmpreises ausgezeichnet.

Sein Koffer steht immer bereit, in einer Ecke seines Zimmers: Seit 50 Jahren ist Renato Berta auf Reisen. Eine physische Reise von Filmset zu Filmset, und eine imaginäre Reise, denn er zaubert Geschichten in einen Rahmen und sorgt dort für Licht, wo es gebraucht wird.

Seine Karriere zu verfolgen, ist ein wenig wie eine Reise zurück in ein halbes Jahrhundert Liebe zum Film. Von den Meistern des Neuen Schweizer Films wie Alain Tanner oder Daniel Schmid bis zum letzten Film von Philippe Garrel («Im Schatten der Frauen», 2015). Dazwischen war er unter anderem tätig für Jean-Luc Godard, Alain Resnais, Amos Gitai, Manoel de Oliveira und natürlich Louis Malle («Auf Wiedersehen, Kinder», 1987, César-Filmpreis 1988).

Die grossen Regisseure reissen sich um ihn, doch Berta stellt sich nicht gerne zur Schau. Der Erfolg eines Filmes, die Schönheit eines Bildausschnitts oder des Lichts seien immer die Früchte von Teamarbeit und langer und manchmal aufreibender Diskussionen, sagt er. So sei das Kino, die gemeinsame Arbeit von vielen Menschen sei oft von blossem Auge nicht erkennbar.

Von Paris, wo er seit vielen Jahren lebt, ist er in die Schweiz gekommen, um den Ehrenpreis des Schweizer FilmpreisesExterner Link in Empfang zu nehmen. In Lausanne erinnert sich der 71-jährige Tessiner vor einer Tasse Kaffee an seine ersten Schritte in der Welt des Kinos und spricht über Begegnungen, die sein Leben geprägt haben.

Die Hexerei der filmischen Technik

Alles beginnt am Filmfestival Locarno. Es sind die ersten Jahre der 1960er, das Fernsehen ist in voller Entwicklung, und eine Gruppe von Tessiner Persönlichkeiten organisiert Kurse, um der Jugend beizubringen, was sich hinter den Bildern verbirgt. Für Renato Berta ist es die Entdeckung einer neuen Welt. «Bis dahin hatte ich gedacht, dass das Kino einer Art Hexerei auf der grossen Leinwand entsprang, etwas Abstraktes…»

Auf Anregung des brasilianischen Filmemachers Glauber Rocha – den er in Locarno trifft – entscheidet sich der junge Mechaniker-Lehrling, nach Rom aufzubrechen, um am dortigen Experimentellen Filmzentrum Kurse zu besuchen. Es ist 1965.

«Ich erinnere mich, dass ich während der ersten Monate fast nie den Mund aufmachte. Ich war beeindruckt. Und dann machten sich die Römer auch etwas lustig über mich und meinen Tessiner Akzent.»

Es herrscht ein Klima der Revolution, die Studenten besetzen die Schule, die seit der Gründung unter Mussolini unverändert geblieben ist, und verlangen einen Austausch der alten Garde. «Es war bei dieser Gelegenheit, wo ich Pier Paolo Pasolini getroffen habe. Er war als Zeichen der Solidarität gekommen, um einen Workshop zu veranstalten.»

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Nach seiner Rückkehr in die Schweiz trifft Berta auf Alain Tanner, und sie arbeiten gemeinsam an dem, was zum Debütfilm der Schweizer Nouvelle Vague wird: «Charles – mort ou vif» (1969), ein Manifest auf die Revolten von 1968, mit wenig Mitteln in nur 21 Tagen abgedreht. «Die Kamera habe ich gekauft. Es war eine 16mm-Kamera, weil die 35mm zu viel Lärm machten und noch nicht die Aufnahme von Direktton ermöglichten.»

Mit Regisseuren wie Alain Tanner und Claude Goretta erlebt die Schweiz in jenen Jahren ein Erwachen und einen tiefen Bruch mit der Tradition eines eher konservativen Kinos. Bis dahin sind die erfolgreichsten Filme wie jene von Franz Schnyder auf Schweizerdeutsch und übermitteln Botschaften, die sich auf Identität und Landschaft beziehen. Das hat nichts mit dem Durst nach Realismus dieser neuen Generation von Filmemachern zu tun, die sich vom französischen Kino oder vom italienischen Neorealismus inspirieren lassen.

«Vielleicht waren wir etwas leichtsinnig», sagt Berta. «Aber wir wagten uns auf unbekanntes Gebiet, und in einem gewissen Sinn war alles erlaubt.» Gemeinsam mit seinen Partnern setzt sich Berta auch für die Anerkennung der Kinoberufe und die Schaffung einer staatlichen Filmförderung ein. «Ich erinnere mich, dass wir während der ersten Jahre sogar Mühe hatten, irgendwo Rentenbeiträge einzuzahlen. Unsere Arbeit war nicht offiziell registriert, und die Beamten wussten nicht, in welche Kategorie sie uns einteilen sollten…»

Trotz ihrer starken Begeisterung haben diese jungen Menschen aber nicht den Eindruck, eine Seite in den Geschichtsbüchern zu schreiben. «Um ehrlich zu sein, hat uns der Erfolg einiger Filme doch etwas überrascht», sagt Berta. «Charles – tot oder lebendig» markiert für ihn den Anfang einer glücklichen Karriere als Kameramann einer neuen Generation von Schweizer Cineasten und macht ihn in ganz Europa bekannt. Aber nicht nur.

Daniel Schmid und die kreative Verrücktheit

Die Karriere von Renato Berta ist mit einer anderen grossen Persönlichkeit des Schweizer Kinos eng verknüpft: Er arbeitete bei praktisch jedem Film von Daniel Schmid (1941 – 2006) mit.

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Der geborene Bündner, ein überzeugter Experimentalfilmer und grosser Ästhet, ist das pure Gegenteil der Westschweizer Regisseure der Novelle Vague. Während diese von der sozialen Botschaft des Kinos überzeugt sind, verfolgt Schmid ganz andere Themen.

«Zu jener Zeit wurden seine Filme in der Schweiz sehr schlecht aufgenommen. Autorenfilmer wie Tanner beäugten ihn mit Argwohn. Doch aus meiner Sicht hatten beide eine aussergewöhnliche Kraft.»

Berta erinnert sich noch an jedes Detail der ersten Begegnung mit Schmid. Es war für «Heute Nacht oder nie» (1972). «Er rief mich an, während ich mir Aufnahmen der Callas anhörte… und das hat sofort eine Art Komplizenschaft geschaffen. Daniel kam dann zu mir nach Genf. Ich holte ihn am Bahnhof ab, wusste aber nicht, wie er aussieht. Doch als er die Treppe herabkam, mit seinen ewigen Plastiksäcken in den Händen, erkannte ich ihn unter Tausenden.»

Der Regisseur von Filmen wie «La Paloma» (1974), «Schatten der Engel» (1976) und «Beresina oder die letzten Tage der Schweiz» (1999) habe auf ihn wie ein Feuerwerk gewirkt, so Berta. «Wenn er den Eindruck hatte, dass etwas nicht funktionierte, konnte er alles umkehren. Er war ein wenig verrückt, im sympathischen Sinn des Wortes. Aber wir haben uns immer verstanden.»

Die Nostalgie der «kreativen Anarchie»

Dank dem ausgezeichneten Ruf, den er sich erarbeitet, schafft es Berta Anfang der 1980er-Jahre, Frankreich durch die offene Türe zu betreten und einen ersten Film mit Patrice Chéreau («Der verführte Mann», 1983) zu drehen. «Für einen Lehrling wie mich, der nicht einmal die Matura abgeschlossen hatte, wurde ein Traum wahr. Ich durfte mit den Grossen arbeiten, mit Regisseuren wie Alain Resnais», erinnert er sich.

Doch der Tessiner wirft sein Auge auch auf Regisseure ausserhalb Frankreichs. Er arbeitet zusammen mit dem Israeli Amos Gitai («Am Tag von Kippur», 2000), mit dem Portugiesen Manoel de Oliveira («Le miroir magique», 2005) und mit dem Italiener Mario Martone («Die Fahne der Freiheit», 2010).

In der Schweiz wagt er unterdessen ein Abenteuer und realisiert mit den beiden Brüdern Fréréric und Samuel Guillaume den Animationsfilm «Max & Co» (2007), der in Frankreich zu einem grossen Erfolg wird.

Heute ist er 71-jährig und hat kein bisschen seiner Begeisterung verloren, auch wenn ihn das ewige Herumreisen etwas müde macht. Und in seiner Stimme schwingt eine Prise Nostalgie mit: Die Nostalgie «für jene kreative Anarchie, die sich ohne Bezugspunkte und Barrieren bewegt». Und für die Magie des Autorenkinos und das Ritual des dunklen Raums, «eine vom Aussterben bedrohte Art».


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(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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