Schweizer machen die Kultur zur Erbin
Die Stiftung Erbprozent Kultur geht in der Kulturförderung neue Wege: Sie lädt Menschen aus der ganzen Schweiz ein, 1 Prozent ihres Vermögens der Kultur zu vererben. Jetzt sind die ersten Preise vergeben worden.
Die Idee entstand 2014 im Kanton Appenzell Ausserrhoden, einem der ländlichsten Winkel der Schweiz. Wie wäre es, wenn ganz viele Privatpersonen einen kleinen Teil ihres Vermögens der Kultur vererben würden? 2015 wurde aus dem Gedankenspiel ein konkretes Projekt: die Stiftung «Erbprozent KulturExterner Link«.
In den vergangenen zwei Jahren hat die Stiftung ein eigenes Kulturfördersystem entwickelt: Einzelpersonen können mittels einem ErbversprechenExterner Link 1 Prozent ihres Vermögens der Stiftung vermachen. Alle Beteiligten dürfen mitreden, was mit dem bestehenden Stiftungskapital geschehen soll. Nach deren Tod fördert die Stiftung mit dem geerbten Geld das Kulturschaffen der nächsten Generation.
Die Crowd redet mit
Die Stiftung Erbprozent verbindet die Idee einer konventionellen Stiftung mit dem Gedanken der Idee der Schwarmfinanzierungen wie etwa Crowdfunding. «Am Anfang einer Stiftung steht oft der Tod einer Person, die festlegt, was sie fördern will», sagt Geschäftsführerin Esther Widmer. «Wir bauen auf der Zivilgesellschaft auf und halten den Stiftungszweck bewusst offen, damit man ihn dem Zeitgeschehen anpassen kann – unsere Erbversprechenden sind sozusagen unsere Crowd.»
Bis jetzt haben 80 Personen ein Erbversprechen abgelegt. Eine davon ist die 67-jährige, im Kanton Zürich wohnhafte Susanne Leuzinger. «Die Idee hat mich sofort überzeugt», sagt sie. «Hinter den meisten Stiftungen stehen sehr wohlhabende Leute. Hier können sich unabhängig von der Höhe des Vermögens alle engagieren.»
Auch im Verhältnis mit den Erbinnen und Erben sieht die ehemalige Bundesrichterin, die sich auch im Stiftungsrat engagiert, kaum Konfliktpotenzial: «Da es nur um 1 Prozent geht, werden sie ein solches Erbversprechen nicht übel nehmen.»
«Wir schenken Zeit»
Wer ein Erbversprechen abgelegt hat, kann die Förderstrategie mitgestalten und konkrete Vorschläge machen, welche Künstlerinnen, Künstlergruppen oder Institutionen gefördert werden sollen. Zudem arbeitet die Stiftung mit «Scouts» und Experten, die das kulturelle Geschehen in allen Regionen der Schweiz beobachten und ebenfalls Vorschläge einbringen. Teilweise wirkt eine professionelle Jury mit.
In der Schweiz gibt es eine im internationalen Vergleich starke staatliche Kulturförderung und zahlreiche Stiftungen, zudem beteiligen sich immer mehr Kulturinteressierte an Crowdfunding-Aktionen. Da fragt sich, ob es überhaupt noch neue Förderinstitutionen braucht.
«Es gibt durchaus Lücken im System», sagt Geschäftsführerin Widmer. «Für Produktionen oder Tourneen finden Künstler oft eine Finanzierung. Was zu kurz kommt, sind die Zeiten dazwischen.» Um sich künstlerisch zu entwickeln, brauche es Zeiten des Innehaltens: «Hier herrscht ein riesiges Bedürfnis, und unter anderem hier wollen wir aktiv werden. Unsere Botschaft ist: Wir vertrauen den Kulturschaffenden. Sie werden das für sie Sinnvolle mit der gewonnenen Zeit anfangen.»
Erste Preise sind vergeben
Diese Botschaft spiegelt sich auch in den Beiträgen, die nun erstmals vergeben wurden. Aus zwölf nominierten Gruppen werden zwei ausgelost, die in Form von je 30’000 Franken Zeit zum Entwickeln erhalten. Diese Förderung ging an Nadja Zela und Band aus Zürich und an die Genfer Theater-Compagnie «Chris Cadillac» von Marion Duval. Mit 40’000 Franken wurde der Musikclub und Festivalveranstalter Bad BonnExterner Link wertgeschätzt. Sechs Einzelkünstler erhalten mit insgesamt 20’000 Franken die Möglichkeit, sich mit einem Mentor oder einer Mentorin ihrer Wahl auszutauschen.
Eine davon ist die Zürcher Künstlerin und Animationsfilmerin Charlotte Waltert. «Das Mentoring ist für mich eine sehr nützliche Unterstützung. So kann ich gezielt ein Projekt auf einen guten Weg bringen – ohne dass ich davor ein fixfertiges Konzept abliefern muss», sagt die 40-Jährige. Welche Person sie als Mentor wählen wird, weiss sie noch nicht. «Ich kann völlig frei wählen, deshalb möchte ich nichts übereilen, sondern mir gut überlegen, wo mich Inputs von aussen wirklich weiterbringen können.»
Die aktuellen Geldbeiträge stammen allesamt aus Erb-Vorlässen, also Schenkungen. Bis das Erbsystem wirklich greift, werden noch ein paar Jahre, wenn nicht Jahrzehnte vergehen. Widmer sieht darin kein Problem: «Das Interesse für Vorlässe ist bis jetzt beachtlich.» Ihr nächstes Ziel ist, das Erbprozent in der ganzen Schweiz zu etablieren.
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