«Ersäuft das Theater in Cola, wird das Leben trivial»
Volker Hesse erhielt Ende Juni den Hans Reinhart-Ring, die höchste Schweizer Theaterauszeichung. swissinfo.ch sprach mit ihm über seine Erfahrungen in Zürich und Berlin, über Sparmassnahmen in der Kultur und darüber, was eine Welt ohne Theater wäre.
swissinfo.ch: Was bedeutet Ihnen die Auszeichnung mit dem Hans Reinhardt-Ring?
Volker Hesse: Die Reihe der Preisträger ist imponierend. Viele spannende, starke Theaterpersönlichkeiten wie Bruno Ganz oder Benno Besson haben diesen Ring erhalten. Da reihe ich mich gerne ein.
Ich möchte den Preis aber nicht als Auszeichnung für mein Lebenswerk sehen.
Ich fühle mich noch so sehr auf die Zukunft bezogen, dass ich alles zu tun versuche, dass Nekrologe nicht entstehen.
swissinfo.ch: Sie haben für grosse Theaterhäuser in der Schweiz, Deutschland und Österreich gearbeitet. Seit Sie als freier Regisseur arbeiten, scheint es Sie aufs Land und zum Volkstheater zu ziehen. Sind Sie der bürgerlichen Theaterwelt entflohen?
V.H.: Das würde ich nicht sagen. Ich leide einfach etwas unter dem Phänomen, dass sich im Theater wie bei der bildenden Kunst manchmal eine starke Insider-Szene bildet, eine vollkommen in sich geschlossene Welt.
Gerade Berlin, wo ich sechs Jahre lang Theater gemacht habe, ist ein Ort, wo sich die Kunstdebatte oft nur noch um sich selbst dreht. Das bringt eine gewisse Abgedroschenheit und auch Zynismus hervor.
Um diesen Mechanismen zu entgehen und wieder die unmittelbare soziale Funktion des Theaters zu spüren, inszeniere ich gerne an kleinen Orten. Gerade bei ländlichen Produktionen konnte ich immer wieder ein sehr starkes Wichtigkeitsmoment erleben.
Beim Welttheater in Einsiedeln waren allein an der Produktion rund 700 Menschen beteiligt. Wenn dann auf dem Platz vor der Einsiedler Kirche 3000 Menschen bei der Vorführung dabei sind, kriegt das Ganze eine Wucht, eine Brisanz und eine Spannung, die ein kleines Guckkasten-Theater so schnell nicht hinbekommt.
Man hat beim Einsiedler Welttheater oder bei den Tellspielen in Altdorf das Gefühl, eine ganze Region fiebere diesem Ereignis entgegen. Viele Laienschauspieler blühen auf der Bühne richtiggehend auf. Frauen etwa, die in tristen Ehen versackt sind, können eine enorme Vitalität aus sich herausholen, wenn sie in der Maske einer Figur toben dürfen.
Mit den Inszenierungen in Einsiedeln ist es nun leider definitiv zu Ende. Ich finde es traurig, dass an einem Ort, wo das kulturelle Ereignis des Welttheaters so geblüht hat, die Ignoranz, das Unverständnis und die Muffigkeit der katholischen Kirche so viel Gewicht hatte.
Der Abt von Einsiedeln möchte am liebsten, dass man eine Aufführung benutzt, um in farbiger Form zu predigen.
swissinfo.ch: Sie haben Ihre Intendanz (2000 bis 2006) am Maxim Gorki Theater in Berlin angesprochen. Davor waren Sie Intendant am Neumarkt Theater in Zürich (1993 bis 1999). Wie haben Sie die Arbeit in diesen beiden Städten erlebt?
V.H.: Die Zeit am Spezialitätentheater am Neumarkt war eine Erfolgsgeschichte. In Berlin habe ich indes sehr schmerzhaft gespürt, wie viel taktische Anstrengungen und Betriebsführungsfähigkeiten notwendig sind, um einen so grossen Apparat wie das Maxim Gorki Theater erfolgreich zu steuern.
Hinzu kommt, dass in Berlin viele Uhren ganz anders ticken als in Zürich. Allein die Tatsache, dass fünf subventionierte grosse Häuser im Sprechtheater miteinander konkurrieren, erzeugt ein Klima, das mit Zürich nicht vergleichbar ist. Die Interviewkriege und Profilkämpfe in Berlin waren für mich überraschend hart.
Die Stadt ist immer noch sehr zerrissen. Ich habe ein Theater geleitet, das einst eine Repräsentationsbühne der DDR war. Das Haus hat eine komplexe Vergangenheit, es ging um Stasi-Geschichten, um ostdeutsche Befindlichkeit und Traditionen, die mir nicht so vertraut waren.
Von diesen Erfahrungen und Begegnungen habe ich in meinem Leben sehr viel profitiert, ich habe deutsch-deutsche Geschichte im Konkretesten durchlebt.
Aber ich musste auch einiges an Lehrgeld bezahlen. Es war oft schwierig, eine gemeinsame Sprache zu finden. Die Annäherungsprozesse zwischen West und Ost haben auch innerhalb der Theaterszene enorme Energien gefressen.
swissinfo.ch: Sind Sie gerne wieder nach Zürich gekommen?
V.H.: Ich hatte gemischte Gefühle. Einerseits war Berlin extrem fordernd und durchschüttelnd, aber es ist natürlich auch eine besonders aufregende Stadt.
Ich befand mich dort mitten in der Kultur- und Politszene, wo auf hohem Niveau differenziert diskutiert wurde. Diese Politkultur, diese Art von Spracherregung ist in Zürich weit weniger ausgeprägt. Das öffentliche Leben ist hier weniger fiebernd.
Das Entscheidende ist allerdings, dass ich in der Schweiz meine Familie und einige sehr enge Freunde habe. Und die machen ein Leben letztlich mehr aus als manche Politdiskussion.
swissinfo.ch: Sie haben als deutscher Regisseur traditionellen Sparten in der Schweiz wie etwa dem Einsiedler Welttheater oder den Tellspielen in Altdorf eine zeitgenössische Form gegeben. Was reizt Sie daran?
V.H.: Ich bin Deutscher, aber ich lebe schon sehr lange auf die Schweiz bezogen. Ich habe eine Art Heimatgefühl in diesem Land als einer, dessen Familie noch tief verstrickt war in Zweite-Weltkriegs-Tragödien und der ich jetzt aus Berlin zurückkomme, wo ich die Stasi-Vergangenheit intensiv erlebt habe.
Ich stelle mir immer wieder die Frage: «Wie erlebt man hier die Wirklichkeit?» Ich glaube, dass wir in der Schweiz immer noch in einem Schutzraum leben. Es geht der Schweiz wirtschaftlich immer noch besser als manchen anderen Ländern. Wir leben in einem Villenviertel der Welt.
Aber durch das Bewusstsein, dass wir auch von der Schweiz aus zahlreiche Geschäfte machen mit Ländern, wo es nicht so villenviertelmässig zugeht, ist heute klar, dass man sich nicht auf einer vollkommenen geschlossenen Insel bewegen kann. Mich interessieren diese Gegensätze von Idylle und Schmerz, Intaktheit und Chaos.
swissinfo.ch: Sie haben ja bereits in den 1970er-Jahren mit Inszenierungen angefangen. Inwiefern hat sich das Theater für Sie seither verändert?
V.H.: Meine frühen Arbeiten standen sehr stark im politisch konfrontativen Umfeld. So habe ich etwa bei meinem ersten Engagement in Trier an der Mosel eine Karl-Marx-Revue gemacht, die zu meinem Rausschmiss führte. Mit der Aargauer Gruppe Claque habe ich etwas später ein Stück zum Nestlé-Babymilch-Skandal inszeniert.
Ich habe agitatorische Theatermittel benutzt, um die Leute vom Hocker zu reissen. Ich komme aus einer katholischen Tradition und habe in dieser Phase meinen Katholizismus richtiggehend aus mir herauszureissen versucht, habe wilde schwarze Messen gefeiert.
Diese unmittelbare Provokationslust hat sich bei mir wie bei vielen Menschen so nicht endlos bewahrt. Ich realisierte im Laufe meiner Regiekarriere zwar immer wieder Projekte, die sich politisch gerieben haben, doch ich habe in der Zwischenzeit auch leisere Gestaltungsformen entdeckt.
Ich habe viele Male Arthur Schnitzler inszeniert. Seine äusserst empfindlichen, leisen, sprachmächtigen Dialoge und diese jüdisch erotische Todesunruhe sind mir sehr nahe.
Autoren wie Schnitzler oder Tschechov sind Menschenkenner, deren Sensibilität, Abgründigkeit und Klugheit nach wie vor sehr viel über uns aussagt.
Dem alten Traum des griechischen Theaters, dass man sich selbst besinnt, dass man über die eigenen Verwundungen, Schmerzen, Sehnsüchte, aber auch über die politische Organisation eines Landes öffentlich nachdenkt, dem hänge ich immer noch an.
swissinfo.ch: In der Inszenierung von Urs Widmers «Top Dogs» 1996 am Neumarkt Theater geht es um entlassene Manager. In «Bankenstück» über das Fiasko der Berliner Bankgesellschaft nehmen Sie quasi die Bankenkrise vorweg. Waren Sie mit Ihren Theaterstücken den Experten voraus?
V.H.: Dass ich den Experten voraus war, würde ich nicht sagen. Ich suche einfach die Auseinandersetzung mit der wirtschaftlich-politischen Realität. Es gibt verhältnismässig wenig Stücke, die in der Wirtschaftswelt spielen.
Im Moment arbeite ich mit dem Autoren Urs Widmer an einer neuen Version von «Top Dogs». Die Wirtschaft liefert viel Stoff – fast zu viel.
Mir kommt es vor, als würde unser Wirtschaftssystem von Leuten gesteuert, die mit 280 Stundenkilometern in den Nebel hineinrasen. Das hat etwas Erschreckendes und Bedrohliches. Es ist immer noch unglaublich unkontrolliert, was da läuft.
swissinfo.ch: Im Zusammenhang mit der Finanzkrise sind Sparmassnahmen vorgesehen, auch im Kulturbereich. In Deutschland werden bei Theaterhäusern bereits rigorose Kürzungen vorgenommen, im Stadttheater Bern steht etwa das Dreisparten-Programm im Visier.
V.H.: Die Gesellschaft wird nicht daran herumkommen, sich zu fragen: Will man eine Elite-Kultur? Will man Orchester finanzieren, die nicht kommerziell geführt werden können?
Es bestehen gewisse strukturelle Alternativen zu den traditionellen Dreisparten-Häusern, doch es gibt im Sprechtheater einfach gewisse Bereiche, die eine Schutzfunktion des Staates brauchen.
Ich hoffe sehr, dass es immer wieder genügend politische Kräfte und Basisbewegungen gibt, um zu verhindern, dass das kulturelle Erbe verheizt oder für Produktionen wie «Starlight Express» geopfert wird.
Viele Gemeinden in Deutschland sind hoffnungslos überschuldet. In solchen Fällen kommt die Gefahr auf, dass anstelle des klassischen Theaters eine kommerzielle Firma tritt. So nach dem Motto: Dann gibt es zwar eine dümmliche Nebelschau mit trivialer Musik, aber die Leute schauen es sich ja an. Und was brauchen wir denn Goethe, Schiller, Shakespeare und Kleist?
swissinfo.ch: Was würde es bedeuten, wenn sich eine Gesellschaft kein öffentlich subventioniertes Theater mehr leistet?
V.H.: Nehmen Sie die USA: Dort gibt es Städte mit mehreren hunderttausend Einwohnern, wo das Kulturleben praktisch ausgestorben ist. Es gibt einen Supermarkt und vielleicht noch irgendein Luftballonfest, aber das war’s dann. So möchte ich nicht leben.
Theater, Museen und Bibliotheken sind enorm wichtig für die Identität einer Stadt und für das Bewusstsein, wo wir herkommen und wozu wir eigentlich leben. Wenn das alles in Coca Cola und McDonald’s ersäuft, wird das Leben trivial und dumm.
Es ist hochgefährlich, wenn die Gesellschaft denkt, auf das kulturelle Erbe sowie auf Komplexität und Differenziertheit verzichten zu können.
Wir leben in einer Zeit, wo Sprache zu Kürzeln verkommt, wo in der zunehmenden Schnelligkeit tiefere Sensibilität und Genauigkeit verloren gehen und wo eine künstliche Fröhlichkeit durch Werbung und Illustrierte den Menschen geradezu eingedrillt wird.
Angesichts dieses herrschenden Daueroptimismus ist es elementar, dass die Kultur ein Gegengewicht zu der gewaltigen Amüsiermaschine bildet.
Corinne Buchser, Zürich, swissinfo.ch
Volker Hesse wurde 1944 im deutschen Moselgebiet als Sohn der Kostümbildnerin Ingeborg Heimann und des Opernregisseurs Rudolf Hesse geboren.
Er studierte in Köln und Wien Germanistik, Theaterwissenschaften und Philosophie.
Nach Schauspiel-Unterricht bei Will Quadflieg assistierte er Regisseuren wie Leopold Lindtberg und Hans Hollmann.
Erste Regiearbeiten realisierte er mit freien Theatergruppen Mitte der 1970er-Jahre.
Seine ersten Arbeiten an Theaterhäusern entstanden am Stadttheater Bern, am Theater Basel und schliesslich an den Münchner Kammerspielen.
Von 1979 bis 1985 war er Regisseur am Düsseldorfer Schauspielhaus.
1993 übernahm er seine erste Intendanz am Theater am Neumarkt in Zürich, das er bis 1999 zusammen mit Stephan Müller leitete.
1996/97 lieferte er mit der Uraufführung von Urs Widmers «Top Dogs» eine der bemerkenswertesten Inszenierungen der jüngeren deutschsprachigen Theatergeschichte.
2001 bis 2006 leitete Hesse das Maxim-Gorki-Theater in Berlin.
In den Jahren 2000 und 2007 inszenierte er als freier Regisseur das Einsiedler Welttheater von Thomas Hürlimann.
2008 führte er Regie bei den Tellspielen in Altdorf; auch die Spiele 2012 werden unter seiner Leitung stehen.
Am 27. Juni 2010 wurde Volker Hesse mit dem Hans Reinhart-Ring ausgezeichnet.
Die Schweizerische Gesellschaft für Theaterkultur ehrt ihn mit dem Ring dafür, dass er «mit seinen vielbeachteten Inszenierungen an bedeutenden Bühnen des ganzen deutschen Sprachraums Akzente gesetzt hat».
Er habe als Theaterleiter gefährdete Bühnen in Zürich und Berlin zum Erfolg zurückgeführt und mit dem Einsiedler Welttheater und den Altdorfer Tellspielen traditionellen Sparten des Theaters in der Schweiz eine zeitgenössische Form gegeben.
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