«Es gibt eine Selbstzensur bei den Filmschaffenden»
Das Schweizer Filmschaffen zeuge von einer grossen Eigenständigkeit, sagt Festivaldirektor Ivo Kummer im Vorfeld der 45. Solothurner Filmtage. Was er sich für den Schweizer Film wünscht, ist mehr Mut und gesellschaftspolitische Themen.
swissinfo.ch: Die Schweiz scheint im Moment in einer Identitätskrise zu stecken. Inwiefern spiegelt sich das in den Schweizer Filmen?
Ivo Kummer: Das aktuelle Filmschaffen zeugt von einer grossen Eigenständigkeit, das zeigt sich etwa in Filmen wie «Giulias Verschwinden» von Christoph Schaub oder «Der grosse Kater» von Wolfgang Panzer.
Wie bei der Politik fehlt jedoch ein wenig der Mut. Der Mut, hinzustehen und etwas Queres zu machen. Etwas, das vielleicht nicht beim grossen Publikum ankommt, aber trotzdem international eine grössere Beachtung findet. Eine Ausnahme dabei ist für mich der Film «Pepperminta» von Pipilotti Rist.
swissinfo.ch: Sehen Sie darin eine Schweizer Eigenheit oder eine Folge der Filmförderungspolitik?
I.K.: Für diese Situation, die ich aber keineswegs dramatisch finde, gibt es verschiedene Gründe. Einer davon ist sicher die Filmförderung: Sie setzt lieber auf Lokomotiven, die dann allzu oft in der Landschaft stehen bleiben.
Dabei wird auf Themen gesetzt, die ein breites Publikum ansprechen sollen. Doch es gibt keine Garantie für solche Themen. Es gibt auch keine Garantie, dass nur teure Filme erfolgreich sind und billige floppen.
Ich denke schon, dass dadurch ein wenig die Selbstzensur in den Köpfen der Filmschaffenden eingesetzt hat. Sie fragen sich, ob sie mit diesem oder jenem Thema eher Chancen auf Fördermittel haben.
Ein etwas radikaleres Filmschaffen, eines, das auch billiger und schneller produzieren kann, würde der Schweiz und vor allem der Schweizer Filmkultur gut tun.
swissinfo.ch: Im Vorwort des Filmprogramms schreiben Sie, dass «gerade in der heutigen, von vielen Vorurteilen und diffusen Ängsten geprägten Zeit der engagierte Film für Aufklärung steht». Eine grosse Aufgabe für den Schweizer Film.
I.K.: Ich glaube, der Schweizer Film hat als Kunstform eine ganz wichtige Aufgabe. Der Film kann identitätsstiftend sein, er kann emotional stark berühren und in gewissen Fällen auch zu Veränderungen führen.
Ich will jedoch nicht sagen, dass der Film politischer werden muss. Ein Film wird nur dann politisch, wenn er von einem Publikum gesehen wird.
Es geht vielmehr darum, dass gesellschaftspolitische Themen wie etwa die Finanzkrise aufgegriffen werden.
Da ist einmal mehr auch der Mut der Filmförderung gefragt, solche Themen auch zu fördern, damit sie auf die Leinwand kommen.
swissinfo.ch: Das Filmfestival erlebte letztes Jahr mit 48’000 Eintritten einen Besucherrekord. Auch der neu eingeführte «Prix de Soleure» und der «Prix du Public» verhelfen dem Festival zu mehr Popularität. Sind Sie damit zufrieden?
I.K.: Ich persönlich bin kein Freund der neuen Rekorde. Wenn wir dieses Jahr 45’000 Besucher haben, bin ich schon sehr glücklich. Es geht mir nicht darum, jedes Jahr die Zuschauerzahlen zu steigern.
Doch für mich ist klar, wir sind der Spiegel des Filmwerkjahrs und müssen publikumsfreundlich programmieren.
Der Schweizer Film ist heute populärer als noch vor 30 Jahren, als er häufig sehr schwer zugänglich war.
swissinfo.ch: Gegenüber dem von Filmchef Nicolas Bideau propagierten roten Teppich und dem Glamour hat sich Solothurn indes bisher resistent gezeigt.
I.K. Ich bin kein Freund der roten Teppiche, den wird es bei uns nicht geben. Glamour und Firlefanz brauchen wir nicht. Und ich glaube, wir haben damit bis heute recht bekommen.
Ich denke, im Festivalbereich muss man vor allem bei sich bleiben können, authentisch sein. Darin liegt wohl auch der Schlüssel zum Erfolg, dass man wirklich das verkauft, wohinter man stehen kann und nicht mehr und nicht weniger.
Die Stars in Solothurn spazieren durch die Strassen oder sitzen in der Beiz, man kann sie ansprechen und anfassen. Es braucht nicht 1000 Fotografen und Blitzlichter, damit eine so genannte Festivalatmosphähre entstehen kann.
swissinfo.ch: An den letzten Solothurner Filmtagen kreuzten Bideau und die Filmbranche, die dem Filmchef Eigenmächtigkeit vorwarf, besonders hart die Klingen. Hat sich die Situation entspannt oder wird es noch härtere Auseinandersetzungen geben?
I.K.: Schlimmer kann es nicht kommen. Ich glaube, wir haben den Tiefpunkt bereits erreicht, die Situation hat sich etwas beruhigt.
Der Wille des Bundesamtes für Kultur, mit der Filmbranche in den Dialog zu treten, ist ein gutes Zeichen. Wenn das frostige Klima auftaut, dann wird es der Schweizer Filmkultur in Zukunft besser gehen.
swissinfo.ch: Welches sind Ihre persönlichen Highlights der 45. Ausgabe der Solothurner Filmtage?
I.K.: Wichtig für mich ist sicher die Eröffnung des Filmfestivals mit Bundespräsidentin Doris Leuthard und der erwartete Besuch von Bundesrat Didier Burkhalter, der damit das erste Mal in die Filmfamilie eintritt und hoffentlich auch das Gespräch mit den Filmschaffenden suchen wird.
Corinne Buchser, swissinfo.ch
Die 45. Solothurner Filmtage finden vom 21. bis 28. Januar 2010 statt. Erstmals wird die Werkschau des Schweizer Filmschaffens von Donnerstag bis Donnerstag durchgeführt.
Eröffnet werden die Filmtage durch Bundespräsidentin Doris Leuthard und auf der Leinwand mit der Schweizer Spielfim-Premiere «Zwerge sprengen» von Christof Schertenleib.
Das Sonderprogramm «Rencontre» ist dem Basler Filmmusik-Komponisten Niki Reiser gewidmet, der wiederholt mit dem Deutschen Filmpreis für die beste Filmmusik ausgezeichnet wurde .
Insgesamt werden 302 Spiel-, Dokumentar-, Experimental- und Animationsfilme sowie Musikclips gezeigt.
Prix de Soleure:
Nel giardino dei suoni Nicola Bellucci | doc 84’
La guerre est finie Mitko Panov | fic 106’
Dharavi, Slum for Sale Lutz Konermann, Rob Appleby | doc 80’
Face au juge Pierre-François Sauter | doc 73’
Waffenstillstand Lancelot Von Naso | fic 95’
Lourdes Jessica Hausner | fic 96’
Breath Made Visible Ruedi Gerber | doc 80’
Die Frau mit den 5 Elefanten Vadim Jendreyko | doc 94’
Prix du public:
Verso Xavier Ruiz | fic 105’
Bödälä – Dance the Rhythm Gitta Gsell | doc 80’
Sinestesia Erik Bernasconi | fic 90’
Pizza Bethlehem Bruno Moll | doc 85’
Der Grosse Kater W.G. Baermann | fic 91’
Coeur animal Séverine Cornamusaz | fic 90’
Complices Frédéric Mermoud | fic 93’
La guerre est finie Mitko Panov | fic 106’
Champions Riccardo Signorell | fic 100’
Dharavi, Slum for Sale Lutz Konermann, Rob Appleby | doc 80’
La valle delle ombre Mihàly Györik | fic 90’
Zwerge sprengen Christof Schertenleib | fic 125’
Mein Kampf Urs Odermatt | fic 104’
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