«Festivals sind musikalisch begleitete Rituale»
Die Schweiz ist das Mekka für Fans von Musikfestivals unter freiem Himmel. Die Musik müsse gefallen, aber für das Publikum sei die Party als gemeinschaftsstiftendes Ritual wichtiger, sagt Musikkenner Jodok Kobelt.
«Es gibt viele Menschen, die verreisen im Sommer nicht mehr in die Ferien, sondern gehen an Open Airs. Festivals sind zu einer Art vergrössertem Wohnzimmer geworden, in dem die Leute an einer grossen Party ihre Träume von einer freundschaftlichen Welt verwirklichen können», sagt Jodok Kobelt gegenüber swissinfo.ch.
Als Musikredaktor und Moderator hatten Kobelt und der Übertragungswagen von Schweizer Radio DRS 3 von 1983 bis 1999 den festen Begleit-Tross der Schweizer Festivalszene gebildet.
Weil die Branche boomt, sind in den letzten Jahren neben den Open-Air-«Klassikern» neue Festivals wie Pilze aus dem Boden geschossen. Selbst für einen Insider wie Christof Huber ist da ein Überblick schwierig.
«Die Schweiz kommt locker auf 300 Festivals», sagt der Organisator des Open Airs St. Gallen und des Summerdays Festival in Arbon zu swissinfo.ch.
Was die grossen Festivals mit europaweitem Ruf betreffe, weise kein anderes Land eine ähnliche Dichte auf wie die Schweiz, sagt Huber, der auch Generalsekretär von Yourope ist, der Vereinigung europäischer Festival-Veranstalter.
Good-Mood-Soundtrack
«Mit Freunden und Kollegen eine gute Zeit verbringen, andere Menschen kennenlernen, zusammen essen und trinken, je nach Wetter nasse Füssen und schmutzige Hosen – und dazu natürlich eine geballte Ladung Musik»: So beschreibt Jodok Kobelt das spezielle Festival-Feeling.
Nicht musikalische Entdeckungen, sondern ein genereller Musikgenuss stehe im Zentrum. Kobelt sieht deshalb die grössten Festivals etwas losgelöst von der Musik, eher spricht er von «musikalisch begleiteten Ritualen. Wer auf der Affiche steht, spielt keine wirklich entscheidende Rolle». Den Besucherinnen und Besuchern genüge zu wissen, dass die Musik gut ist, dafür bürge der Veranstalter.
Als Indiz dafür nennt Kobelt, dass die grossen Festivals jeweils innert kurzer Zeit nach Eröffnung des Vorverkaufs ausverkauft sind. «Es gehört bereits zum Ritual, an Weihnachten so genannte Early-Bird-Pässe zu verschenken, wenn noch gar nicht bekannt ist, wer im Programm fungiert.»
Festival-Mainstream
Zwar kann Kobelt nach wie vor eine «Tranchierung» der grossen Festivals untereinander erkennen: «In St. Gallen und auf dem Gurten dominiert der Rock und es gibt Entdeckungen aus der Indie-Szene. Das Paléo Nyon mischt sehr erfolgreich Stars, Worldmusic und frankophone Überraschungen. In Frauenfeld ist Hip Hop angesagt, in Montreux gibt’s vertrauten Jazz, R&B sowie Worldmusic plus einige Entdeckungen, während am Greenfield schwerer und lauter Breitseiten-Rock das Leitmotiv bildet.»
Vom früher verbreiteten Anspruch, dem Publikum ein exklusives Programm zu bieten, hätten sich die Veranstalter etwas entfernt, beobachtet Kobelt, der den Weltmusik-Blog globalsounds.info betreibt.
Lenny Kravitz, der Rockstar aus den USA, ist im Schweizer Festival-Sommer 2012 gleich vierfacher Headliner, nämlich am Paléo, in Montreux, auf dem Berner Gurten und am Moon and Stars in Locarno.
Für Kobelt ist diese Multi-Präsenz kein Zufall. «Zum einen gehört Kravitz als absolutes ‹Bühnentier› zu jenen Musikern, die seit je sehr viele Konzerte gespielt haben und ständig am Touren sind.» Zum andern passe der Sänger und Gitarrist aufgrund seiner Vielseitigkeit in alle Festival-Schubladen, «mal spielt er bei den Leiseren, mal bei den Lauten».
Alle wollen ein Stück vom Kuchen
Christof Huber spricht von einem Festivalmarkt, der sich in den letzten 20 Jahren komplett verändert habe. «Man muss sich schon fragen, ob es Sinn macht, im Umkreis von 20 oder 30 Kilometern jede Woche ein Festival durchzuführen», gibt er zu bedenken.
Die hohe Dichte erschwere es Organisatoren, ihrem Festival ein Profil zu verleihen. Mit seinen 36 Jahren zählt das Open Air St. Gallen zu den traditionellen Festivals im Land. «Aber wir erfinden es jedes Jahr wieder neu», sagt Huber.
Zum Konzept gehören Electro Acts auf der Hauptbühne, viele aufstrebende Bands, aber ebenso ein Artwork (Plakat), das von jungen Designerinnen und Designern stammt. «Damit wollen wir ein junges und auch neues Publikum ansprechen», sagt Huber.
Riesige Umsätze, relativ kleiner Gewinn
Aussagen, wonach Schweizer Festivals die höchsten Gagen zahlten, widerspricht Huber klar. In Grossbritannien, Holland, Skandinavien und Deutschland verdienten die Stars noch mehr, weil dort auch die Märkte grösser seien. «In England beispielsweise gibt es viele Festivals, die 200 bis 250 Pfund Eintritt kosten», sagt Huber. Statt dieser 300 bis 370 Franken sind es in der Schweiz in der Regel unter 200 Franken.
Die Budgets der grossen Festivals gehen in die Millionen. «Aber das grosse Geld wird damit nicht gemacht. Zwar schaut für Veranstalter wie Standbetreiber etwas heraus. Aber gemessen an den Umsätzen bleibt auch bei den grossen Festivals nicht allzu viel übrig», relativiert Jodok Kobelt.
Aus der Sicht von Huber sieht dies so aus: «Mit dem letzten Jahr waren wir sehr zufrieden, aber vor drei Jahren erlitten wir einen grossen Verlust, weil wir 6000 Eintritte zu wenig hatten.»
Um solche Rückschläge wegstecken zu können, benötigen Festival-Organisatoren laut Huber einen langen Atem und vor allem finanzielle Stabilität.
«Ohne Sponsoren gäbe es keine grossen Festivals», sagen Huber und Kobelt übereinstimmend. Deren Beiträge helfen, die hohen Fixkosten zu senken. In St. Gallen sind rund 20% des Budgets durch Sponsoren gedeckt. Die Präsenz der Sponsoren auf dem Gelände macht laut Huber aber insofern Sinn, weil sie dem Publikum einen Service böten, etwa mit Bancomaten oder Auflade-Stationen für Handys.
Ob Riesenkiste oder Anlass in familiärer Ambiance: An Festivals ist Jodok Kobelt kaum mehr anzutreffen. «Bei DRS 3 hatte ich bis zu 300 Bands pro Jahr gesehen, das war ein absoluter Overkill.»
Eine Ausnahme macht er noch. «Heute gehe ich nur noch an Festivals und an Konzerte im Bereich Weltmusik», sagt Kobelt. Nicht nur als Zuhörer wohlgemerkt, sondern auch als Journalist, der Musikerinnen und Musiker aus allen Kulturen interviewt.
Mit rund 300 Events ist die Schweiz Spitzenreiterin in der Disziplin Open-Air-Konzerte. Die Festival-Saison dauert von Mitte Juni bis ca. Mitte August.
Branchenriese ist das Paléo Festival: Mit rund 230’000 Besuchern, die jeweils Mitte Juli für sechs Tage nach Nyon strömen, ist das Open Air der grösste Kultur-Event der Schweiz.
Das Montreux Jazz Festival meldete 2011 zwar 240’000 Eintritte, doch spielen dort nur Bands der zweiten Garde im Freien.
Zu den Grossen zählen ferner die Veranstaltungen in Frauenfeld (2011: 145’000 Zuschauer), in St. Gallen (105’000), Gampel im Oberwallis (85’000) und das Gurtenfestival Bern (72’000).
Das Festival Rock Oz’Arènes im Amphitheater Avenches mit 37‘000 und das Greenfield in Interlaken mit über 25’000 Zuschauern gehören zu den kleineren unter den «Grossen».
Preisbeispiele (alle Preise ohne Ermässigungen):
Paléo: 325 Franken (6-Tages-Pass). Greenfield: 198.- (3 Tage). Gurten: 200.- (4 Tage). In der Premiumklasse spielt das Montreux-Festival, wo der Pass für die ganzen zwei Wochen 1500 Franken kostet ( alle Preise ohne Ermässigungen).
In den letzten Jahren sind zudem mehrere Festivals in Städten entstanden, die ebenfalls ein grosses Publikum erreichen. So etwa in Zürich, Luzern oder Locarno.
Das lukrative Open-Air-Geschäft, zum dem auch die hochprofitablen Stadionkonzerte zählen, sind für internationale Stars umso wichtiger, als die Einkünfte aus den CD-Verkäufen völlig weggebrochen sind.
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