«Willkommen in der Schweiz!»
Eine kleine Gemeinde im Kanton Aargau entschied im Herbst 2015, lieber eine Strafgebühr von knapp 300'000 Franken zu bezahlen als Asylsuchende aufzunehmen. Die Nachricht verbreitete sich in ganz Europa. Die Schweizer Regisseurin Sabine Gisiger entschied daraufhin, die Vorgänge in dieser Gemeinde genau zu verfolgen. Entstanden ist der Film "Willkommen in der Schweiz!", der jetzt am Festival Locarno gezeigt wurde. Erzählt wird die Geschichte von einer gespaltenen Gemeinde, die symbolisch für die Situation im ganzen Land steht.
Herbst 2015: Europa ist mit einer gewaltigen Flüchtlingsbewegung von einer Million Migranten konfrontiert und Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Tore weit geöffnet.
Die kleine Gemeinde Oberwil-Lieli im Kanton Aargau geht einen ganz anderen Weg. Gemeindepräsident Andreas Glarner widersetzt sich dem Ansinnen, 10 Flüchtlinge in der Gemeinde aufzunehmen.
Der 55-jährige Glarner, Nationalrat der rechts-konservativen Schweizer Volkspartei (SVP) und dort Verantwortlicher für das Dossier Asylpolitik, will mit seiner Geste eine klare Botschaft aussenden: «Man muss die Willkommenskultur und die unverantwortliche Schweizer Asylpolitik stoppen.»
Darum schlägt er vor, einen Ausgabenposten von 290’000 Franken ins ordentliche Budget der Gemeinde aufzunehmen. Der Betrag entspricht genau der Strafgebühr, welche die Gemeinde bezahlen muss, wenn sie ihrer Pflicht bei der Aufnahme von Asylsuchenden nicht nachkommt.
Doch im kleinen Dorf mit seinen 2200 Einwohnern – davon 300 Millionäre – formiert sich auf Initiative der Studentin Johanna Gündel Widerstand gegen die Politik des Gemeindepräsidenten. Die Mühlen der direkten Demokratie beginnen zu mahlen. Im November 2015 entscheidet die Gemeindeversammlung, den Betrag von 290’000 Franken wieder aus dem Budget zu streichen.
Doch ein Unternehmer lanciert ein Referendum. Es kommt zur Volksabstimmung. Am 1.Mai 2016 sagt eine knappe Mehrheit der örtlichen Stimmbürger Ja zum Referendum, sprich Nein zur Aufnahme der zehn Flüchtlinge.
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Die Asylpolitik spaltet ein Dorf
Die Geschichte macht international Schlagzeilen: Il Fatto Quotidiano (Italien), The Indipendent (England), Le Figaro (Frankreich), Focus online (Deutschland) und sogar Russia Today (Russland) berichten darüber.
Die Schweizer Dokumentarfilmerin Sabine Gisiger hat im September 2015 durch einen Beitrag des deutschen TV-Senders ARD vom Fall erfahren. Und sie hatte die Idee, die Protagonisten dieser Geschichte für ein Jahr zu begleiten, um die Gründe besser zu verstehen, welche diese Angst vor einigen wenigen Flüchtlingen auslösen.
Entstanden ist der Film «Willkommen in der Schweiz!», ein Streifen von 83 Minuten, dem in jeder Hinsicht dokumentarischer Wert zukommt. Denn die Spaltung der kleinen Gemeinde Oberwil-Lieli spiegelt letztlich die Spaltung der ganzen Schweiz. Die Zuschauer müssen sich angesichts dieses Films viele Fragen stellen. Zugleich ist es ein Blick in 70 Jahre Geschichte.
Die Schweiz und die Angst vor Ausländern
Sabine Gisiger ist Historikerin. Und daher wollte sie die Geschehnisse von Oberwil-Lieli in einen grösseren Kontext einbetten. «Die Art und Weise, wie wir heute über unsere Beziehungen mit Ausländern und generell mit Fremden sprechen, hängt ganz eng mit den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zusammen, mit den Ängsten, die in gewisser Weise gepflegt wurden», sagt die Regisseurin.
Historische Aufnahmen werden daher genutzt, um sie als Intermezzo zwischen die aktuellen Bilder zu stellen: Etwa die Schliessung der Grenzen für Juden 1942 oder die Baracken für italienische Saison-Arbeitskräfte, die so genannten Saisonniers, in den 1960er-Jahren.
Es handelt sich um dunkle Flecken in der Schweizer Geschichte, die einen utilitaristischen Umgang des Landes mit ihren Ausländern spiegeln. Das heisst: Mit offenen Armen werden die Ausländer empfangen, wenn die Wirtschaft Bedarf hat. Doch wenn keine Nachfrage mehr besteht oder Ängste in der Bevölkerung aufkommen, schickt man sie schnell nach Hause.
Sabine Gisiger dokumentiert die Geschichte und die Vorgänge in Oberwil-Lieli, ohne für eine Seite Stellung zu beziehen. Ein Beweis für die nicht einseitige Herangehensweise ist die Tatsache, dass sich sogar Andreas Glarner nach der Filmpremiere zufrieden zeigte.
Glarner, der SVP-Hardliner
Andreas Glarner war lange ausserhalb der Lokalpolitik praktisch unbekannt. Dies änderte sich erst mit den erwähnten Vorgängen in seiner Heimatgemeinde. Er war 1992 zur SVP gestossen, als die Debatte um den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR die Schweiz entflammte. SVP-Übervater Christoph Blocher war sein grosses Vorbild.
1998 wurde Glarner dann in den kleinen Gemeinderat von Oberwil gewählt; seit mittlerweile zehn Jahren ist er Gemeindepräsident. Bei den Schweizer Parlamentswahlen 2015Externer Link wurde er als Vertreter der SVP in den NationalratExterner Link gewählt. Und nur ein Jahr später wurde er bereits zum Parteiverantwortlichen für Asyl- und Migrationsfragen ernannt. Dieser Aufstieg innerhalb der Partei wird von Sabine Gisiger dokumentiert.
Andreas Glarner repräsentiert heute das rechte Spektrum seiner Partei. Seine häufig provokativen Auftritte lösen immer wieder Diskussionen aus. So sagte er etwa im November 2015 einem deutschen Journalisten, der ihn fragte, was er einer Flüchtlingsfamilie an der europäischen Aussengrenze sagen würde: «Ich würde ihnen sagen, dass sie die Reise ganz umsonst gemacht haben!»
Vor der Kamera von Sabine Gisiger äussert sich der Gemeindeammann wie folgt: «In einigen Jahrzehnten werden wir von zwei Ländern mit einer muslimischen Mehrheit umgeben sein – Deutschland und Frankreich.» Gegen diese Bedrohung müsse man sich wehren. Während der Vorführung am Festival Locarno lachen die Zuschauer bei dieser Bemerkung.
Der Studentin Johanna Gründel, Tochter eines lokalen Gemüsebauern, machen diese Aussagen Angst. Die junge Frau kritisiert, dass die SVP ihre Kampagnen mit dieser Rhetorik von einer angeblichen Bedrohung durch Ausländer bestreitet. Da sie ihre Slogans wie ein Mantra wiederhole, gelänge es der Partei, Wahlen und Abstimmungen zu gewinnen. Mit dieser Behauptung macht es sich Gündel wohl allzu leicht, trifft aber sicherlich auch einen Teil der Wahrheit.
Der Schweizer Kompromiss
Inzwischen ist in Oberwil-Lieli wieder Ruhe eingekehrt. Die Einwohner haben beschlossen, eine syrische und eine christliche Familie im Dorf aufzunehmen. Es handelt sich um «echte Flüchtlinge», wie Glarner sagt. Weitere fünf Asylsuchende werden in einer Nachbargemeinde beherbergt; für deren Kosten kommt die Gemeinde Oberwil-Lieli auf. Zudem hat das Dorf beschlossen, eine Nicht-Regierungsorganisation in Griechenland mit 50‘000 Franken zu unterstützen. So ist der Frieden mit allen gemacht.
Die von Johanna Gündel gegründete Interessengemeinschaft (IG) Solidarität hat nicht einmal versucht, sich der Auswahl von Flüchtlingen gemäss Herkunft und Religion zu widersetzen, obwohl dies nicht mit der Genfer Konvention vereinbar ist. Gündel wusste, dass sie darauf keine neue Kampagne bauen konnte. Daher hat sie an der Gemeindeversammlung lediglich darauf hingewiesen. Die Reaktion: Gleichgültiges Achselzucken.
Am Ende gewinnt also der typisch schweizerische Kompromiss. Die Fähigkeit, Kompromisse zu schliessen, wird oft als Erfolgsfaktor für die Schweiz gewertet, doch in diesem Fall weist der Kompromiss auch gewisse zynische Züge auf.
Sabine Gisiger zeigt sich in Bezug auf die Zukunft aber optimistisch: «Die Schweiz hat ein Problem mit ihrer Geschichte. Aber die heutige Jugend hat viel weniger Angst vor den Ausländern. Sie lebt nicht mit diesem Mythos einer idealen Gesellschaft, welche die Schweiz nie war. Die Jugend weiss, dass wir heute in einer anderen Welt leben, und lernen müssen, mit den anderen zu leben.»
Sabine Gisiger
Sabine Gisiger, geboren 1959 in Zürich, hat an den Universitäten Zürich und Pisa Geschichte studiert und mit einem Doktortitel abgeschlossen. Ab 1989 absolvierte sie eine Ausbildung zur Journalistin beim Schweizer Radio und FernsehenExterner Link (SRF). Seit 1991 ist sie als freischaffende Dokumentarfilmerin tätig. Ihr Dok-Film «Do it» aus dem Jahr 2000, den sie gemeinsam mit Marcel Zwingli drehte, fand internationale Beachtung und wurde als bester Schweizer Dokumentarfilm ausgezeichnet. Ihre Filme «Yalom’s Cure» und «Dürrenmatt. Eine Liebesgeschichte» waren 2015 unter den Top-Ten der Schweizer Kino-Charts.
Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob
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