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Städte vereinen sich für Menschen und deren Geschichte

Zeid Raad al-Hussein
Der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid Raad al-Hussein, unterzeichnet die "Erklärung von Genf", beäugt von Remy Pagani, Stadtpräsident von Genf (rechts) und Zuhait Mohsin Al Al-A’araji, Stadtpräsident von Mossul, Keystone

Angesichts vorsätzlicher Zerstörungen historischer Relikte unterzeichnen ein Dutzend Städte im Norden und Süden die Genfer Erklärung zur Verbesserung des Schutzes des kulturellen Erbes und der damit verbundenen Gemeinschaften. Das Ziel ist, weitere Städte in dieses Netzwerk einzubinden und Lücken in bestehenden Verträgen zu schliessen.

«Der Mensch ist durch Blut und Tränen und nicht durch Religionen vereint», sagte Pater Michaeel Najeeb bei der Unterzeichnung der Genfer Erklärung im Palais Heynard, der das Rathaus von Genf beherbergt.

Als Flüchtling aus Erbil in der autonomen kurdischen Region des Iraks weiss der chaldäische katholische Priester, wovon er spricht: «Ich rette seit 25 Jahren das kulturelle Erbe und damit auch die Menschen. Man kann Menschen nicht retten, ohne ihre Geschichte zu retten.»

Pater Najeeb gelang es, 8000 Manuskripte vor der Zerstörung zu bewahren, einige davon aus dem 13. Jahrhundert, und etwa 40’000 Dokumente, darunter die ersten Bücher aus dem alten Mesopotamien. Najeeb, der zuerst von Mosul, seiner Heimatstadt, aus operierte, konnte die wertvollen Dokumente vor der zerstörerischen Wut des «Islamischen Staats» (IS) retten, als dieser im Juni 2014 in die irakische Stadt einmarschierte. Ein riskantes AbenteuerExterner Link, das ihn nach Erbil führte, von wo aus er seine Rettungsaktion fortsetzte.

Père Najeeb
Pater Najeeb, Unterzeichner der «Erklärung von Genf», als Vertreter der Zivilgesellschaft von Erbil im Norden Iraks. swissinfo.ch

Dieses beispielhafte Engagement verkörpert Wort und Geist der Genfer ErklärungExterner Link Menschenrechte und kulturelles ErbeExterner Link: «Aufgrund ihrer grossen symbolischen Bedeutung sind das kulturelle Erbe, das damit verbundene Wissen und die Praktiken bevorzugte Ziele in internen und internationalen Konflikten. Mit deren Zerstörung wird versucht, auf Personen und Gemeinschaften, sogar auf ganze Völker und deren Identitätszentren zu zielen und die Spuren ihrer Existenz auszulöschen.»

Das bestätigt auch der Bürgermeister von Mosul. Der Unterzeichner der Erklärung, Zuhait Mohsin Al Al-A’araji, erinnert daran, dass «der IS ein methodisches Programm zur Zerstörung des historischen Erbes der Stadt Mosul hatte. Sie zielten vor allem auf das architektonische Erbe, Moscheen, Kirchen – auf alles, was den Einfluss der Stadt in der Vergangenheit zeigte.»

Mosul, Timbuktu, Diyarbakir …

Seit der Befreiung der Stadt im letzten Sommer arbeitet Zuhait Mohsin Al Al-A’araji am Wiederaufbau seiner Stadt, einschliesslich ihres historischen Erbes. Welche Bedeutung hat die Genfer Erklärung für ihn? «Wir profitieren von den Erfahrungen anderer Städte, die dies bereits erlebt haben und können mit Bürgermeistern aus aller Welt darüber sprechen», sagte er bei der Unterzeichnung.

Im malischen Timbuktu, einer weiteren Unterzeichner-Stadt, wurden die Mausoleen  der 333 Heiligen 2012 von den Islamisten der Bewegungen AQMI und Ansar Dine angegriffen. Einer ihrer Führer, Ahmad Al Faqi Al Mahdi, wurde vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zu neun Jahren Gefängnis verurteiltExterner Link, weil er das kulturelle Erbe zerstört hatte. Eine Premiere in der Geschichte der internationalen Justiz.

Der Bürgermeister der malischen Stadt, Aboubacrine Cissé, zog Bilanz über die Restaurierung der Mausoleen: «Diese Denkmäler sind Leben, sie sind die Wurzeln. Ihr Wiederaufbau bedeutet neues Leben.»

«Die Zerstörung kann auch durch Staaten verursacht werden», sagt Fatma Sik, eine weitere Unterzeichnerin der Erklärung. Die Co-Bürgermeisterin von Sur, einer Gemeinde in der Metropole Diyarbakir in der überwiegend kurdischen Region der Türkei, wurde 2016 vom türkischen Staat zusammen mit Dutzenden anderen Kurden nach erneuten Kämpfen zwischen der türkischen Armee und den kurdischen PKK-Rebellen vertrieben. Seitdem hat sie Zuflucht in der Schweiz gefunden.

Fatma Sik
Fatma Sik an der Vernissage einer Ausstellung über Diyarbakir. swissinfo.ch

Auf dem «Place des Nations» vor dem UNO-Hauptquartier in Genf, wo sie und andere kurdische Aktivisten seit dem 19. März im Hungerstreik sind, um gegen die türkische Offensive im syrischen Afrin zu protestieren, erzählt Fatma Sik, dass rund 100 historische Gebäude in Sur zerstört wurden. Eine AusstellungExterner Link in Genf macht die Verwüstung sichtbar.

Die Spuren der Vergangenheit sind für die Gemeinschaften «wesentliche Ressourcen, die es ihnen ermöglichen, die kulturellen Rechte wahrzunehmen, ihre Kreativität und Widerstandsfähigkeit zu entwickeln und über ihre Unterschiede hinaus einen Dialog zu führen, indem sie ihre jeweiligen Erinnerungen teilen, um gemeinsam zu leben und die Zukunft aufzubauen», steht in der Erklärung von Genf.

Im Krieg und Frieden

Die Herausforderung ist auch in friedlichen Ländern spürbar, wie die Verfasser der Erklärung schreiben: «Zerstörung, ob legal oder illegal, ist auch die Folge einer nicht nachhaltigen Entwicklungspolitik, die weder die Bestrebungen noch die Menschenrechte des Einzelnen berücksichtigt.»

Die Unterzeichner der Erklärung im Norden (Genf, Strassburg, Lund und Wien) und Süden betrachten sich deshalb als gleichberechtigte Partner. Eine Bevormundung, die manchmal durch die Massnahmen zum Schutz des Kulturerbes und in zwischenstaatlichen Verträgen entsteht, soll vermieden werden. Dies ist jedenfalls die Hoffnung des Vaters der Initiative, des Bürgermeisters von Genf, Rémy PaganiExterner Link. Diesem Geist schliesst sich auch Zeid Raad al-Hussein, UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, an. Er begrüsst den «innovativen Ansatz» der Initiative.

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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