Weibliche Gewalt und katholischer Sex: Blitzeinschläge am Filmfestival Busan
Manche nennen es auch das "Cannes Asiens“: Das Busan International Film Festival in Südkorea ist der wichtigste Filmtreffpunkt in Asien. Neben den asiatischen Filmen hat das Festival auch dieses Jahr eine Auswahl an Filmen aus aller Welt eingeladen. Und gleich zwei aus der Schweiz.
Repräsentiert haben das Schweizer Kino in Busan Ursula Meier und Carmen Jaquier, zwei Westschweizerinnen. Beiden gehören zwei verschiedenen Generationen von Filmemacherinnen an, dennoch beschäftigen sich die beiden Regisseurinnen mit unseren Geschlechterrollen und zeigen, wie kontinuierlich unsere Gesellschaft sich an Themen wie Emanzipation, Elternschaft und Ausgrenzung reibt.
Im Film «La Ligne“, der in Busan gezeigt gezeigt wurde, räumt Meier mit dem Mythos auf, dass die Verbindung zwischen Mutter und Tochter zwangsläufig innig und verständnisvoll sein muss. Meier zeigt ein Frauenbild, das so nur selten sichtbar ist.
«Ich wollte eine Geschichte weiblicher Gewalt, erzählen. Normalerweise wird Gewalt im Kino durch männliche Protagonisten dargestellt, und wenn gewalttätige Frauen gezeigt werden, dann sind es meist Jugendliche, oft geht es auch um Drogen oder Prostitution. Doch das hat mich nicht interessiert. Ich wollte die Gewalt dieser weiblichen Figur ohne viele Erklärungen zeigen“, erklärte die Regisseurin nach der Premiere des Films an der diesjährigen Berlinale.
Vor dem Hintergrund dieser Motivation wirkt es nur konsequent, dass sich Meier mit ihrer Produktionsfirma Bande à part auch den Dokumentarfilm “Cascadeuses” von Elena Avdija betreute, der beim Zürich Film Festival mit einem Goldenen Auge im «Fokus Wettbewerb“ ausgezeichnet wurde.
Der Film beschäftigt sich mit dem Beruf von Stuntfrauen. «Anhand des Repertoires an Stunts, die von ihnen verlangt wird, zeigt sich das Frauenbild im Film insgesamt und erzählt von den Machtstrukturen zwischen den Geschlechtern. Stuntfrauen müssen oft Frauen spielen, die vergewaltigt und geschlagen werden, nur selten sind sie Superheldinnen. Dies spiegelt die Gewalt und die Darstellung von Gewalt gegen Frauen wieder“, sagt Meier.
Auch das Spielfilmdebüt von Carmen Jaquier fokussiert auf Gewalt in verschiedenen Formen. Nach der Weltpremiere in Toronto reiste «Foudre» – «Blitz» – erst nach Spanien zum Filmfestival von San Sebastián. Dann holte er sich am Zurich Film Festival gleich mehrere Preise, darunter den Kritiker:innenpreis und den Preis der Zürcher Kirchen. Nun feierte er in Südkorea, in Busan, seine Asienpremiere.
«Foudre» ist Teil einer besonderen Sektion, die das Festivals jährlich nicht-asiatischen Produktionen junger Filmemacher:innen widmet, «die einen innovativen und originellen Ansatz zum Kino haben.» Tatsächlich entfaltet das Drama, in dem es ums Erwachsenwerden und das sexuelle Erwachen von jungen Menschen um 1900 in den Schweizer Bergen geht, auf der Leinwand bildgewaltige Szenen.
Die historische Ansiedlung erzeugt eine faszinierende Verfremdung des Stoffes, doch Jaquier findet über die Farbgebung und die Geräuschkulisse immer wieder einen Bezug zur Gegenwart. «Es wäre gefährlich, zu glauben, wir seien heute besser als damals», sagte die Regisseurin während eines Gesprächs mit dem koreanischen Publikum.
Carmen Jaquier, in ihren eigenen Worten
swissinfo.ch war in Busan und hat die Genfer Regisseurin, die in Zürich lebt, über ihr Filmdebüt befragt.
swissinfo: Warum haben Sie Sexualität zu Ihrem Thema gemacht? Und warum denken Sie, dass wir auch bei uns weiter darüber sprechen sollten?
Carmen Jaquier: Ichhabe mich gefragt, ob ich das Thema vielleicht meiden sollte, nachdem ich bereits in mehreren Kurzfilmen darüber gesprochen hatte. Es ist nämlich nicht einfach, sich damit zu beschäftigen. Oft ruft es heftige, aggressive Reaktionen hervor und ich wollte auch nicht, dass man mich als Filmemacherin in eine Schublade steckt.
Doch schliesslich habe ich mich anders entschieden. Zum einen hat das damit zu tun, dass ich mich von meinen eigenen Erfahrungen und Empfindungen inspirieren lassen möchte, auch wenn meine Filme nicht autobiografisch sind. Zum anderen gibt es viele Filme, die schlecht mit Sexualität umgehen, da sie sich auf den physischen Akt konzentrieren, die Sexualität aber nicht hinterfragen und erforschen.
Ich finde, deswegen ist es notwendig, weiter darüber zu sprechen, denn wenn man schweigt, schafft man einen Raum für Gewalt. Es braucht aber Mut, sich damit zu befassen, auch von Seiten der Zuschauer.
Warum haben Sie sich dafür entschieden, die Geschichte um 1900 spielen zu lassen?
Ich habe Tagebücher meiner Urgrossmutter bekommen, die sie gegen Ende ihres Lebens geschrieben hat und die ihre Beziehung zu Gott reflektieren. Ihre Gedanken haben mich inspiriert, genauer über die Zeit zu recherchieren. Dabei hat sich gezeigt, dass es viele Geschichten gibt, die nicht erzählt wurden.
Ich habe auch eine Historikerin aus dem Wallis kennengelernt, Marie-France Vouilloz Burnier, die sich intensiv mit der Geschichte der Frauen aus dem Wallis beschäftigt. So bin ich auf das Bild dieser stolzen, eleganten Bäuerinnen gestossen, die mich fasziniert haben und die so in historischen Filmen nicht gezeigt werden.
Welchen Bezug haben Sie zu Religion?
Meine Eltern haben mich nicht religiös erzogen. Doch meine Grossmutter und Urgrossmutter waren sehr gläubig. Meine Grossmutter hat versucht, Einfluss auf mich zu nehmen. Und als Jugendliche hat das auch funktioniert. Ich war fasziniert von den Ritualen und den Geschichten aus der Bibel. Das ging eine gewisse Zeit, und dann gab es einen Bruch. Ich würde jetzt nicht mehr unbedingt sagen, dass ich an Gott glaube, doch ich bin immer noch auf der Suche nach etwas, und der Film ist Teil dieser Suche.
Wie haben Sie die jugendlichen Schauspierer:innen auf den Film vorbereitet? Wie wichtig war es, dass sie eine Sprache sprechen, die der Zeit entspricht?
Jeder und jede von ihnen kommt aus einer anderen Region, deswegen war es eine Herausforderung, eine sprachliche Einheitlichkeit zu schaffen. Doch im Film wird nicht sehr viel gesprochen, weil ein Thema des Films genau die fehlende Kommunikation ist. Das hat geholfen. Wir haben darüber hinaus versucht, die Sprechweise der Darstellerinnen und Darsteller zu harmonisieren. Bei Lilith Grasmug mussten wir zum Beispiel schauen, dass sie nicht zu elegant wirkt mit ihrer Pariser Art.
Als Vorbereitung haben wir gemeinsam viel über die Szenen gesprochen. Lilith hat ein Notizbuch geführt während der Dreharbeiten, woraus sie viel mit mir geteilt hat. Wir haben viel Zeit in der Natur verbracht. Es war wichtig, dass wir ein Vertrauensverhältnis aufbauen konnten. Alle sollten wissen, dass sie jederzeit Nein sagen konnten. Es war wichtig für sie, ihre Grenzen auszutesten und kennenzulernen.
«Foudre» wurde innert kurzer Zeit in sehr unterschiedlichen kulturellen Sphären gezeigt. Haben Sie sich jemals Gedanken darüber gemacht, welches Bild der Schweiz Sie mit dem Film im Ausland vermitteln oder vermitteln wollen?
Das habe ich mir nie überlegt. Ich glaube, dass ich mich gar nicht als Schweizerin empfinde. Dass ich mich in erster Linie als Mensch und als Frau sehe. Schweizerin zu sein, spüre ich nur in ganz bestimmten Momenten, beim Wählen zum Beispiel oder im Ausland, aber ich denke nicht viel darüber nach.
Ich will Teil einer neuen Generation von Schweizer Filmschaffenden sein, doch meine Kolleginnen und Kollegen in der Schweiz, sind, wie Elena Naveriani, die Georgierin, oder Elie Grappe, der Franzose ist, nicht zwangsläufig schweizerisch über ihre Nationalität. Das ist die Schweiz und das ist ihre Stärke.
Busan Film Festival 2022
Im Oktober fand die 27. Ausgabe des Busan International Film Festival statt. Das Festival wurde 1996 gegründet und erlebte seitdem einen unaufhaltsamen Aufschwung, zur gleichen Zeit wie die südkoreanische Filmindustrie selbst.
Seit seiner Gründung verbucht das Busan International Film Festival ein durchschnittliches Publikumsaufkommen von 190’000 Besucher:innen. Zum Vergleich: Locarno, das grösste Festival der Schweiz, verzeichnete 2022 knapp 129’000. 2022 wurden in Busan 243 Filme gezeigt.
Während in der Schweiz geklagt wird, dass die Menschen nicht mehr ins Kino gehen, sind die Koreaner:innen begeisterte Kinogänger:innen. Vergleicht man die offiziellen Zahlen der jeweiligen Auswertungsstellen von 2019 vor Corona, sieht es folgendermassen aus: über 220 Mio. verbuchte Kinoeintritte in Korea jährlich (seit 2013 immer um die 200 Mio.). In der Schweiz, die rund achtmal weniger Einwohner:innebn hat, waren es 455’897 Eintritte.
Der Marktanteil der südkoreanischen Produktionen im eigenen Land liegt über 50%. In der Schweiz machen heimische Filme nur gut vier Prozent aus.
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