Gilles Jobin, Choreograph und Aktivist
Er ist ein Pionier und Erneuerer des zeitgenössischen Tanzes in der Schweiz. Im Oktober hat der Jurassier Gilles Jobin den Tanzpreis der Schweiz erhalten. Porträt eines Künstlers mit einer kompromisslosen Haltung und eines leidenschaftlichen Zeitgenossen mit einer Mission.
Still sein, sie Tanzen! Gilles JobinExterner Link dreht den Kopf in Richtung des Saales neben seinem Büro, wo ein Tanzkurs stattfindet. Wir sind in einem Loft in Genf. Hier entwirft Jobin seine Projekte, probt seine Programme und organisiert Kurse. Sein Loft ist gleichzeitig ein Treffpunkt für Physiker, Astronomen, Ingenieure, Elektroniker und für Tänzer und Choreographen aus der ganzen Welt.
Am vergangenen 16. Oktober hat das Bundesamt für Kultur den 51-jährigen Jobin mit dem Schweizer TanzpreisExterner Link ausgezeichnet. «Ich habe mir nie eine Karriere vorgenommen. Aber seit ich den Preis erhalten habe, denke ich, dass ich bereits eine reiche Karriere hinter mir habe. Ich bin ja auch nicht mehr der Jüngste. Wenn ich auf meinen Werdegang blicke, denke ich, dass ich mich stark engagiert habe bei meiner Arbeit.» Jobin ist international bekannt und gilt als Künstler mit einer kompromisslosen Haltung. «Das ist eine Wahl, eine Mission.»
Tanzpreis 2015
Gilles Jobin hat nicht nur weltweit gewirkt, sondern «mit seiner kompromisslosen Art den zeitgenössischen Tanz seit zwanzig Jahren geprägt und weit über die nationalen Grenzen hinaus revolutioniert», begründet die Jury die Vergabe des mit 40’000 Franken dotierten Preises.
Die Preise wurden am 16. Oktober in Freiburg in Anwesenheit von Kulturminister Alain Berset verliehen. In seiner AnspracheExterner Link bedauerte Berset, dass der Tanz unter den Künsten eher ein Schattendasein friste. Dabei gehöre er doch unabdingbar zum Paarungsverhalten. «Ohne den Tanz wären wir noch nicht einmal geboren», scherzte er.
Als «herausragende Tänzerin» zeichnet das Bundesamt für Kultur (BAK) Simone Aughterlony aus, Ioannis Mandafounis ist «herausragender Tänzer». Mit den Auszeichnungen für die beiden ehrt das BAK Künstler, die international tätig sind und in renommierten Compagnien in aller Welt mitwirkten. Beide erhalten je 25’000 Franken.
Daraufhin fragt man ihn, ob er sich als Botschafter der Schweiz verstehe, ein wenig so, wie Roger Federer. «Ja, wissen Sie, mit meiner Arbeit in der Kunst und der Wissenschaft, habe ich quasi den Schnellzug genommen. Ich repräsentiere nicht lediglich die Tanzkompagnie unter meinem Namen, aber auch das CERNExterner Link (Europäische Organisation für Kernforschung, hat ihren Sitz in der Nähe von Genf) und dessen künstlerische Projekte.»
Interaktionen
Mit dem CERN steht Gilles Jobin seit drei Jahren in Kontakt. Daraus entstand im Jahr 2013 sein Stück Quantum, eine Reflexion über die Möglichkeiten, zwei menschliche Körper in Beziehung zu bringen. Ein Thema, das an den Gesetzen der Physik kratzt.
Weitere Kreationen von Jobin heissen Spider Galaxies und Força ForteExterner Link. Gravität, Anziehung, Spaltung, Verschmelzung, das sind Begriffe aus der Wissenschaft, die Jobin auch meisterlich auf der Bühne einsetzt, indem er Fragen über die Interaktionen der Körper zwischen den Tänzern aufwirft.
Quantum wurde bisher in Europa und in Lateinamerika fünfzig Mal aufgeführt. Ende November ist das Stück in Indien auf den Bühnen zu sehen, und in St. Petersburg fand kürzlich eine Vorpremiere der Kreation Força Forte statt, die im kommenden April in Genf zu sehen sein wird. Jobin ist in der Westschweiz und in Südamerika bekannter als in der Deutschschweiz. «Dort bin ich viel zu wenig präsent», sagt er.
Der Einfluss des Vaters
Schon in jungen Jahren wurde Gilles von seinem Vater Arthur JobinExterner Link, einem abstrakten Maler, beeinflusst. «Ich war schon als kleiner Knabe von abstrakten, geometrischen Bildern umgeben. Ich habe eine organische Beziehung zur Geometrie.» Und zu allem, was mit Zahlen zu tun hat und Gleichungen, kann man anfügen. A+B=XExterner Link, The Moebius StripExterner Link, Two Thousand-And-ThreeExterner Link – so heissen weitere Kreationen von Gilles, die ebenfalls internationalen Erfolg hatten.
Dennoch bleibt man zuweilen nach einer Vorstellung etwas verwirrt zurück, ähnlich, wie wenn man vor einem Mondrian-Gemälde steht. Die geometrische Raffinesse entgeht uns. Wie soll man diese abstrakte Kunst verstehen? «Es gibt nichts zu verstehen», antwortet der Choreograph. «Wenn Sie einem Sonnenuntergang zusehen, dann suchen sie auch nicht nach Erklärungen. Jeder interpretiert ihn auf seine Art und je nach momentaner Stimmung.»
Spuren in der Luft
Für den Künstler, der seine ersten Tanz-Schritte bei den Schweizer Choreographen Philippe Saire und Fabienne Berger gemacht hat, «ist die Kunst nicht etwas Überflüssiges. Sie ist, das ist alles». Seine Frau La Ribot, auch sie ist Tänzerin und Choreographin, teilt diese Haltung. Das Paar hat zwei Knaben. «Der Kleine geht noch zur Schule, er kommt manchmal an meine Vorstellungen», erzählt Jobin. Der Ältere ist Gärtner, er interessiert sich nicht so sehr für Tanz, und das ist auch gut so.»
Eine Tanzaufführung ist vergänglich. Sechzig Minuten dauert eine Aufführung im Schnitt, dann ist Schluss. Ein Maler hingegen malt für die Ewigkeit. Bilder der grossen Meister hängen im Museum. «Schliesslich ist die Choreographie, wie ich sie gestalte, nicht so weit von der Malerei weg», sagt Gilles Jobin. «Meine Kunst ist eine momentane Kunst. Ich lasse unsichtbare Spuren in der Luft.»
(Übersetzung aus dem Französischen: Andreas Keiser)
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