Güllen ist überall – die Karriere von Dürrenmatts «Der Besuch der alten Dame»
Der Plot ist universell: Eine Frau kommt zurück in ihr Dorf und rächt sich – mit der Macht des Geldes. Friedrich Dürrenmatts Stück "Der Besuch der alten Dame" machte den Schweizer Schriftsteller weltberühmt. Noch heute wird es rund um den Globus gespielt.
Die Handlung von Friedrich Dürrenmatts Theater «Der Besuch der alten Dame» ist eigentlich schnell erzählt: Klärchen Wäscher, mittlerweile zur Milliardärin verwittwete Claire Zachanassian, kehrt in ihr Heimatdorf Güllen – ein Synoym für «Jauche»– zurück. Dort macht sie den Dorfbewohner ein Angebot: Eine Unsumme Geld für den Tod von Alfred Ill, der sie in ihrer Jugend geschwängert, danach mit Tricks die Vaterschaft verleugnet und sie so ins Elend gestossen hat.
In den Tagen nach der Ankunft der alten Dame bröckelt jeder Widerstand gegen das unmoralische Angebot – zu verlockend ist der Wohlstand. Am Schluss töten die Dorfbewohner Ill vor den Augen ihrer Auftragsgeberin. Das Drama spielt sich zwischen Angebot und Mord ab: Gehorsam gegenüber den eigenen Bedürfnissen, Verpuffen von Haltung, Skrupellosigkeit.
«Herr Dürrenmatt, Sie haben uns mit ihrem Stück in die Fresse gehauen. So haben Sie uns in die Fresse gehauen. Ich danke Ihnen, Herr Dürrenmatt, dass Sie uns in die Fresse gehauen haben. Hauen Sie uns bitte weiterhin in die Fresse, Herr Dürrenmatt.» So reagierte – gemäss Dürrenmatts Erinnerungen – ein begeisterter Theaterbesucher auf die erste Aufführung von «Der Besuch der alten Dame» in Deutschland.
Dort verstand man das Stück als Spiegel, den man der Nation in der Nachkriegszeit vorhielt. Ein Hauptthema des Stücks sei, so benennt es Dürrenmatts Biograf Peter Rüedi treffend, «die Geburt des allgemeinen Wohlstandes aus einer kollektiv verdrängten Schuld».
In Deutschland war man dafür äusserst empfänglich. Wenig mehr als ein Jahrzehnt nach 1945 befand man sich im Wirtschaftswunderland, alles Morden schien vergessen. In der ersten deutschsprachigen Verfilmung der 1950er Jahre tanzen die Güllener um Leuchtreklamen wie ums goldene Kalb, nachdem Sie den Check für die Ermordung Ills erhalten haben.
1958 erreichte die alte Dame den Broadway und 1964 Hollywood – hier wurde das Stück 1964 mit Ingrid Bergmann als Zachanassian und Anthony Quinn als Ill verfilmt.
In gewissem Sinne fand der Plot so zu seinem Ursprung zurück: Dürrenmatts erste Bearbeitung des Stoffes in einer Kurzgeschichte mit dem Titel «Mondfindesternis» spielte noch in den USA: Ein vermögender Heimkehrer bezahlt ein Dorf, um seinen alten Rivalen auszuschalten. Ironischerweise lag Hollywoods Güllen dann irgendwo in einem diffus imaginierten Balkan, gefilmt vor Kulissen in Rom.
Der Plot endete mit einem ambivalenten Happy-End: Ill wird von Zachanassian in letzter Sekunde begnadigt, doch er muss nun unter denen leben, die bereit waren ihn zu töten. Dürrenmatt war nicht sehr glücklich über den Film. Das war er bei Filmen ohnehin selten.
Nicht bekannt ist, wie er die Aufnahme seines Stücks in einer Fernsehserie im libanesischen Nationalfernsehen aufgenommen hat. Die Serie «Allo Hayeti» – «Hallo mein Leben» handelte von einem Paar. Dessen Auf und Ab ihrer Beziehung wurde zum Teil mit Literatur verwoben.
In der fünften Episode liest eine Schauspielerin aus Dürrenmatt vor, die beiden Hauptschauspieler schlüpfen in die Rollen von Ill und Zachanassian, und «Der Besuch der alten Dame» wird zum Beziehungstheater.
Bereits kurz nach der Uraufführung begann auch Dürrenmatts Karriere in den realsozialistischen Ländern. «Der Besuch der alten Dame» erschien bereits 1958 auf Russisch.
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Der Besuch des alten Herrn
Dürrenmatt war ein Autor für Tauperioden – ab den 1960er Jahren wurde er wieder von den Bühnen verdrängt, erst in der Perestrojka-Phase der 1980er Jahren erlebte er eine Renaissance – darunter auch «Der Besuch der alten Dame». Das Stück liess sich als Kritik des Kapitalismus inszenieren, aber zugleich als Kritik des Kommunismus lesen.
Igor Petrov, Journalist bei SWI, berichtet, wie er die Verfilmung des Regisseurs Michail Kozakov 1989Externer Link erlebt hatte: «Dieses Stück machte damals einen mörderischen Eindruck auf mich, denn in dessen Mittelpunkt steht ja letztlich die Frage der moralischen Grundlagen der Gesellschaft. Ich kann auch verstehen, was den Regisseur an diesem Stoff reizte: Er wollte jene Doppelmoral ergründen, in der die sowjetische Utopie des real existierenden Sozialismus schliesslich auch unterging.
Mir fiel auch Claires diabolischer Plan auf, Alfred nicht selbst, sondern durch die Gesellschaft zu töten. Alfred schien der Einzige in dieser verruchten Stadt zu sein, der mit der Fähigkeit einer kritischen Selbstreflexion ausgestattet ist. Und ausgerechnet er ist derjenige, der zum Tode verurteilt wird.
Mich aber erschütterte die Frage nach dem Ursprung der Moral, die Durrenmatt in diesem Stück mit einer nie dagewesener Radikalität stellte. Die Behauptung, jede Gesellschaft, jede Masse, jede Menschenmenge, selbst wenn sie unter den fortschrittlichsten Parolen dahinmarschiert, sei dazu fähig, einen auch ohne mit der Wimper zu zucken zu verraten, war für mich ein echter Schock.»
Die treueste und zugleich erstaunlichste Adaption des Besuchs der alten Dame lieferte 1992 der senegalesischen Regisseurs Djibril Diop Mambéty, der bereits mit 53 Jahren an Krebs starb und ein sehr kleines Werk hinterlassen hat, das ihn aber dennoch in das Firmament des afrikanischen Kinos gestellt hat. Er versetzte die Handlung seines Films nach Colobane, einer von Armut geprägten Kleinstadt in der Sahelzone.
Doch Hoffnung kommt auf: Eine Tochter der Gegend, Linguère Ramatou, die extrem reich geworden ist, kehrt nach dreissig Jahren Abwesenheit zurück. Sie bietet der Gemeinde auch tatsächlich die schwindelerregende Summe von 100 Milliarden CFA-Francs an. Unter einer Bedingung: dem Tod von Dramaan Drameh, dem örtlichen Lebensmittelhändler. Sie will Rache: Dreissig Jahre zuvor hatte der Mann Linguère Ramatou verlassen, nachdem er sie geschwängert hatte.
Der senegalesische Regisseur bleibt dem Originaltext sehr treu und arbeitete eng mit Friedrich Dürrenmatt zusammen. Das Ergebnis hat der 1990 verstorbene Dürrenmatt nie sehen können. Als «Hyènes» 1992 bei den Filmfestspielen in Cannes vorgestellt wurde, liess Mambéty in Erinnerung an den Schweizer Autor einen Platz neben sich frei.
Trotz aller Werktreue verwurzelt sich der Plot auch in der Sahara. Mit seiner Arbeit wollte der senegalesische Regisseur die bescheidenen Menschen gegen die Mächtigen verteidigen. Er beschwörte auch eine gewisse Desillusionierung gegenüber den neuen afrikanischen Staaten, die aus der Dekolonisation hervorgegangen sind.
In «Hyènes» verwandelt Djibril Diop Mambéty die Geschichte von Friedrich Dürrenmatt in eine Art Denunziation der Versuchungen des Kolonialismus und der Unterwerfung Afrikas unter den globalisierten Kapitalismus. Wenn die lokale Führung beschliesst, ausgerechnet den Lebensmittelhändler zu opfern, bedeutet das auch, dass sie sich den Produkten der Ersten Welt unterwirft.
Diese Hyänen, die der Regisseur heraufbeschwört und die im Film immer mal wieder aufblitzen, können also mehrere Gesichter annehmen: die afrikanische Elite, eine Bevölkerung, die den Sirenen des Konsums allzu leicht nachgibt, ein internationales System, das Afrika ausbeutet… Es liegt schliesslich am Zuschauer zu bestimmen, wer diese Hyänen wirklich sind.
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Übrigens: Auch wenn der Text heute zur klassischen Schullektüre gehört: In der Schweiz kam der Text anfänglich nicht nur gut an, nach seiner Uraufführung 1956 im Schauspielhaus Zürich. Ein Antrag an die Kulturförderungsstiftung Pro Helvetia, Dürrenmatts Aufführung bei Gastspielen im Ausland zu unterstützen, wurde abgelehnt. Die Jury begründete das damit, dass es sich dabei um kein «für den schweizerischen Geist charakteristisches und repräsentatives Werk» handelte.
Welch Glück für das Stück: Noch heute wird es rund um den Globus gespielt: Sowohl am National Theatre in London gespielt, als auch von kleineren Theatern in der Mongolei. Manchmal liegt Güllen auch in Ulan Bator.
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