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Tapferkeit aus alten Tagen bringt Frauen an die Macht

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Seit dreihundert Jahren übernehmen die Frauen in zwei Schweizer Dörfern jeweils im Januar die Macht. Das dreitägige Fest ist mehr Spass, fusst aber auf einem wichtigen historischen Ereignis. Und es gibt einen Anstoss für die aktuelle Gender-Diskussion.

«Frauen regieren!» Unter diesem Motto stehen die beiden Dörfer Fahrwangen und Meisterschwanden im Kanton Aargau während dreier Tage. Diese Tradition ist auf die entscheidende Rolle der Frauen im zweiten Villmergerkrieg 1712 zurückzuführen. 

Damals kämpften Zürich und Bern gegen die katholischen Kantone der Zentralschweiz. Die beiden Dörfer waren zu jener Zeit unter Berner Herrschaft. In Fahrwangen befand sich ein Lager der reformierten Truppen.

Als die reformierten Männer anderswo kämpften, lancierten die Katholiken einen Angriff. Der Legende nach soll der Berner Kommandant die Frauen in die Wälder geschickt haben, um dort Lärm zu machen. Die Angreifer sollten glauben, dass ein grosses Heer im Anmarsch sei. Der Krieg endete mit einer katholischen Niederlage.

Der Berner Kommandant sei derart beeindruckt vom Kampfwillen der Frauen gewesen, dass er ihnen für drei Tage pro Jahr die Macht übergab. Diese Tage sind als «Meitlidonnerstag», «Meitlisamstag» und «Meitlisonntag» bekannt und werden jedes Jahr gefeiert.

Der «Männerfang»

Die alte Tradition im Kanton Aargau scheint beliebt zu bleiben: Dieses Jahr nahmen 90 Frauen aller Altersgruppen teil, etwas mehr als in früheren Jahren. Die Meitlisonntag-VereinigungenExterner Link der beiden Dörfer wurden 1912 gegründet, 200 Jahre nach den Villmergerkriegen. Erstmals offiziell erwähnt wurde der Brauch aber bereits 1842.

Richtig zur Sache geht es am Meitlidonnerstag, wenn die «Weiberherrschaft» mit Trommelklängen der Tambourinnen verkündet wird. Gruppen von 12 bis 15 Frauen machen sich mit ihnen auf zum ersten Restaurant. Sie offerieren den Männern Getränke, bevor sie ihre «Opfer» aussuchen. Vor dem Meitlisonntag bietet das Organisationskomitee Tanzunterricht an, um sicherzustellen, dass alle Teilnehmenden bereit sind.

Als «Gefangene» ausgewählt werden oft Männer, die sich auf irgendeine Art um den Zusammenhalt im Dorf verdient gemacht haben, etwa durch Freiwilligenarbeit. Aber festgelegte Kriterien gibt es keine. Der gefangene Mann wird gebeten, sich in ein Hanfnetz zu legen. Dann wird er im Netz mehrmals hochgeworfen und wieder aufgefangen.

Schliesslich tragen ihn die Frauen im Netz zur nächsten Bar, wo er seine Freiheit erkaufen muss, indem er den Frauen eine Runde spendiert. Am Meitlidonnerstag tragen die Frauen Masken und tanzen in den Bars. Am Wochenende dann finden unter anderem ein Karnevalumzug und ein Kinderfest statt.

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two women dressed in sunday best for festival

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Mit Netzen auf Männerfang

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Der Meitlisonntag ist eine drei Tage dauernde «Weiberherrschaft» in zwei Aargauer Dörfern. Am Donnerstag findet traditionell der Männerfang statt.

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Auch heute relevant

Unter Feministinnen könnte dieser Brauch zu kritischen Fragen führen: Warum wird Frauen nur drei Tage lang die Macht zugestanden, in einer Zeit, wo Geschlechtergleichheit die Norm sein sollte?

Mitglieder der Meitlisonntag-Vereinigungen bestätigen: Sie seien nicht länger darauf angewiesen, von den Männern die Macht in ihren Dörfern zu erhalten, aber die Frauenrechte im Allgemeinen müssten noch gefördert werden. Für sie ist diese traditionelle Feier ein Kampf um Gleichberechtigung.

Vereinigungspräsidentin Priska Lauper ist der Meinung, dass der Brauch erhalten bleiben sollte. Denn er feiere starke Frauen und sei einzigartig. Ihre 16-jährige Tochter machte dieses Jahr zum ersten Mal mit. Lauper hofft, dass die Tochter die Tradition fortführt.

Der Brauch wurde in die kantonale Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen, eine Sammlung lebendiger Schweizer Traditionen, die als schutzwürdig erachtet werden. Mit dieser Liste soll das Bewusstsein für kulturelles Brauchtum und dessen Vermittlung gefördert werden.

Am Sonntagabend ist das Fest zu Ende, nachdem die Frauen den Männern symbolisch das Zepter zurückgegeben haben. Dies in Form eines riesigen runden Zopfbrots. Diese Geste sei allerdings nicht ganz ernst gemeint, betont Lauper: «Am Sonntag sagen wir den Männern zwar, dass wir ihnen das Zepter symbolisch zurückgeben, was alle lustig finden, weil sie meinen, wer die Hosen anhabe, sei sowieso klar: die Frauen!»

(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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