Die Stimmen der letzten Holocaust-Überlebenden bewahren
Die Pandemie, der Ukraine-Krieg und das allgemeine Krisenempfinden lassen Feindseligkeiten gegen Jüdinnen und Juden wieder erstarken. Zugleich sterben die Zeitzeuginnen und -zeugen, die den Holocaust überlebt haben. Eine digitale Ausstellung lässt sie zu Wort kommen.
«Es gibt noch unendlich viel zu sagen. Es gibt aber auch Dinge, die ich nie erzählen werde, da sie zu grausam sind», sagte Katharina Hardy im Buch «The Last Swiss Holocaust Survivors». Hardy starb im Sommer 2022 im Alter von 93 Jahren – die letzten Überlebenden des Holocaust verstummen zunehmend.
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«Eigentlich gehöre ich zu den Toten im KZ Bergen-Belsen»
Die Wanderausstellung, aus der das Buch entstand, war seit 2017 an etlichen Orten weltweit zu sehen. Die zwölf Porträts entstanden in einer Zusammenarbeit der Stiftung Gamaraal, die sich seit 2014 um die Holocaust-Erinnerung in der Schweiz bemüht, und dem Archiv für Zeitgeschichte. Nun ist sie digital verfügbar.Externer Link
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Holocaust-Überlebender: «Wenn man Angst hat, wird man erkannt»
Bronislaw Erlich ist einer der Porträtierten. Er wurde 1923 in Polen geboren und überlebte getarnt als Zwangsarbeiter auf einem deutschen Hof. Wäre er aufgeflogen, man hätte ihn ermordet, weil er Jude ist.
Die Erinnerungen lassen Erlich bis heute nicht los: «Wenn ich zu Bett gehe und das Licht ausmache, dann denke ich an meine Eltern und meinen kleinen Bruder, die alle ermordet wurden. Ich habe schlaflose Nächte. Eine Frau aus Bern meinte einst, ich solle Baldriantropfen nehmen, ich habe mir eine Flasche gekauft. Es nützt nichts.»
Die Einsicht, dass auch in der Schweiz an die Verbrechen der Nationalsozialisten erinnert werden muss, setzte sich erst seit den späten 1990er-Jahren durch. 2020 lud der Bundesrat die verbleibenden 450 Überlebenden ein, die in der Schweiz wohnten – eine späte Geste.
Auch dass heute in breiter politischer Abstützung ein Mahnmal entstehen soll, das an diejenigen erinnert, die an den Schweizer Grenzen in den Tod geschickt wurden, und an die anderen, die in den Lagern getötet wurden, ist das Resultat eines langen Prozesses.
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Die Schweiz tat sich lange schwer mit der Erinnerungskultur
Während und auch nach dem Zweiten Weltkrieg begegnete man den Jüdinnen und Juden, welche die Vernichtung überlebt hatten, in der Schweiz keineswegs mit einer Willkommenshaltung, sondern mit fremdenpolizeilichem Argwohn.
Viele der Porträtierten in der Ausstellung sind erst später gekommen, nach dem Ungarnaufstand 1956 oder dem Prager Frühling 1968 – als Flüchtlinge vor dem Kommunismus wurden sie in der Schweiz willkommen geheissen.
Erlich ist einer der ältesten Überlebenden, die in der digitalen Ausstellung zur Sprache kommen. Er war 22 Jahre alt, als der Krieg endete. Oft begegnen uns in der Ausstellung Kindheits- und Jugenderinnerungen an die Zeit der Vernichtung. Einige Porträtierte der Ausstellung sind in der Zwischenzeit bereits verstorben.
Das endgültige Verstummen der Zeitzeuginnen und -zeugen des Holocaust beschäftigt Geschichtsvermittelnde seit einigen Jahren. In den USA gibt es bereits Versuche, Gespräche mit Holocaust-Überlebenden als interaktive Hologramme zu programmieren, um die Begegnung mit ihnen zu simulieren.
Der Vernichtung in den Konzentrationslagern begegnet die Nachwelt grösstenteils medial vermittelt, durch Fotos der Mörder, selten Zeichnungen der Opfer und viele Spielfilme – etwas, das sich die Leugner:innen und Verharmloser:innen der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden stets zu Nutze machten.
Die Zeitzeugenschaft, die Präsenz von Überlebenden, mit denen man sich unterhalten kann, war stets das eindrücklichste Mittel gegen das Vergessen des Holocaust. «Wenn Überlebende in Schulen erzählen, bleiben die Handys liegen, alles wird still,» erzählte Anita Winter, Präsidentin der Stiftung Gamaraal, 2021 gegenüber swissinfo.ch.
Die Herausforderung der Zukunft liegt darin, wie man an den Holocaust erinnert, ohne Betroffene einladen zu können. Nachdem, wie ein kürzlich erschienener Porträt-Band titelte, «die Erinnerung Geschichte» geworden ist.
Im Landesmuseum Zürich sprach Anika Reichwald, Kuratorin am Jüdischen Museum Hohenems im November 2022 mit Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt, und Emile Schrijver, Direktor des Jewish Historical Museum, über das Verstummen der Zeuginnen und Zeugen. Hier finden Sie die Aufzeichnung des GesprächsExterner Link.
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