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«Godard arbeitet nicht gegen andere, sondern im Einklang mit sich selbst»

Fabrice Aragno (links) und Jean-Luc Godard. Keystone

Fabrice Aragno ist Regisseur, Produzent, Cutter und Tontechniker. Seit mehr als 10 Jahren arbeitet er mit Jean-Luc Godard zusammen. Als Vertrauensmann von Godard hatte er entscheidenden Anteil am überraschenden 3D-Film "Adieu au langage". swissinfo.ch sprach mit Aragno, nur wenige Tage vor der Verleihung des Schweizer Film-Ehrenpreises an Jean-Luc Godard.

swissinfo.ch: Sie arbeiten seit mehr als 10 Jahren mit Jean-Luc Godard zusammen. Wie kam es dazu?

Fabrice Aragno: Alles begann mit einer Nachricht auf meinem Anrufbeantworter. Ruth Waldburger, die Produzentin von Godard, hatte mich einmal gefragt, ob ich nicht Interesse an einer Zusammenarbeit hätte. «Na klar!», antwortete ich. Und so hörte ich eines Tages diese Nachricht von Jean-Luc auf meinem Anrufbeantworter, mit der Bitte zurückzurufen.

Das war schon komisch. Ich komme ja eigentlich vom italienischen Filmschaffen – Fellini, Taviani, Olmi und vor allem Antonioni. Godard gehörte nicht zu meinen Lieblingsregisseuren. Ich kannte auch nur einige seiner Filme – die bekanntesten. Deshalb besorgte ich mir dann alle seine Streifen und habe sie in wenigen Tagen angesehen – einen nach dem anderen. Das war ein wenig idiotisch. Aber ich dachte, er würde mir wohl Fragen zu seinen Filmen stellen und mich vorführen… Es hielten sich ja allerlei Gerüchte über ihn.

Dann ging ich an einem Sonntagmorgen in sein Atelier. Ich hatte ein wenig Angst. Noch bevor ich eintrat, bemerkte ich den Zigarrenrauch, und ich begriff, dass dort «ein wildes Tier» lebte. Ich erkannte dann eine Gestalt im Gegenlicht. Aber alles war ganz ruhig. Und meine innere Unruhe legte sich auf einen Schlag. Denn da war ein ganz normaler Mensch, der mich anlächelte. Er bat mich, bei Drehortbesichtigungen dabei zu sein und Statisten zu finden.

swissinfo.ch: Wie beschreiben Sie Ihre Beziehung?

F.A.: Es gibt keine spezielle Beziehung. Jeder ist, wie er ist. Wir sind beide eher scheu. Wir kommunizieren auf unsere eigene Art und Weise. Normalerweise sprechen wir wenig. Ich bin sowieso kein Mann der vielen Worte.

Godard sieht die Personen, wie sie sind, und das schätze ich sehr an ihm. Ich fühle mich wohl in seiner Gesellschaft. Und das erlaubt es mir, Dinge ganz ohne Angst auszuprobieren. Technische Spielereien machen mir Spass, und ich kann mich darin verlieren. Dabei bin ich ja kein Techniker, sondern ein Cineast. Aber genau diese Tatsache gibt mir mehr Freiheit.

Das gilt auch für die Schauspieler. Jean-Luc filmt alles auf die gleiche Art und Weise, egal ob Hund, Baum oder Schauspielerin. Denn er will immer auf das Wesen der Sache gehen. Das kann auch dazu führen, dass sich Schauspieler in ihrem Ego beleidigt fühlen. Doch aus meiner Sicht handelt es sich eher um ein Kompliment. Ich jedenfalls habe diese Vision von Jean-Luc. Es ist natürlich eine subjektive Sichtweise. Aber Objektivität gibt es meiner Meinung nach sowieso nicht.

swissinfo.ch: Nach dem «Film Socialisme» drehte Godard einen Film in 3D. Wieso?

F.A.: Jean-Luc fragte mich eines Tages, ob ich nicht ein wenig Lust hätte, mit 3D zu experimentieren. Einfach so. Es ist seine Art und Weise, ein neues Projekt zu starten. Als wir für den «Film Socialisme» für einen Dreh erstmals auf ein Kreuzfahrtschiff gingen, teilte er uns zwei Tage zuvor mit, dass er nicht kommen würde. «Wäre ich mit euch zusammen, würdet ihr nur versuchen, mir zu gefallen. Dabei würde nichts herauskommen. Fühlt euch einfach frei», sagte er. Und so sind wird losgezogen.

Fabrice Aragno

Fabrice Aragno wurde 1970 in Neuenburg geboren. Er absolvierte Ausbildungen in Design, Architektur, Regie, Theater-Lichttechnik sowie Filmregie.

Er arbeitete unter anderem einige Jahre in einem Marionettentheater.

Der Kurzspielfilm «Dimanche» war seine Diplomarbeit an der Kunstschule von Lausanne (ECAL). Dieser Film wurde 1999 an den Filmfestspielen in Cannes gezeigt. Seither hat Aragno mehrere Kurzspielfilme sowie Dokumentarfilme gedreht. Gemeinsam mit ehemaligen Mitstudenten gründete er die Produktionsfirma Azul.

Seit 2002 arbeitet er mit Jean-Luc Godard zusammen, etwa in «Notre musique» (2004), «Film socialisme» (2010) und «Adieu au langage» (2014). Der letzte Film wurde in 3D gedreht. Er erhielt an den Filmfestspielen 2014 von Cannes den «Prix du jury». 

swissinfo.ch: Er gab Ihnen also eine grosse Handlungsfreiheit…

F.A.: Er hat er mir diese Freiheit nie genommen, daher brauchte er mir auch nie etwas zurückzugeben.

swissinfo.ch: Im neuen Film «Adieu au langage» wirkt das Format 3D überraschend und poetisch. Wie konnten Sie dieses innovative Ergebnis erreichen?

F.A.: Erinnern wir uns an Avatar. Damals sprachen alle von 3D. Der Film war aber eigentlich banal und enttäuschend, wie das ganze 3D-Kino. Der Erzählstil verändert sich nicht, und die visuellen Effekte sind minim. Was bringt das also? Wir wollten einen Film drehen, der nur in 3D existieren kann. Wir wollten diese Technik ausnützen, um etwas wirklich Neues zu schaffen.

Die 3D-Technik ist sehr einfach, ganz im Gegensatz zu dem, was uns die Filmindustrie weismachen will. Es gibt ein Bild für das rechte Auge, und ein Bild für das linke Auge. Ausgehend von dieser Überlegung haben wir versucht, einen solchen Effekt zu erreichen, aber anderes Material einzusetzen: Fotoapparate, Videokameras und Smartphones. Mir hat es sehr gefallen, mit diesen Bildern zu spielen, diese übereinanderzusetzen und einen «flip flop»-Effekt zu schaffen. Das heisst, man sieht zwei unterschiedliche Handlungen, je nachdem, mit welchem Auge man schaut und welches man schliesst.

Ich arbeite ganz intuitiv, ohne daran zu denken, ob das, was ich mache, auch wirklich in den Film eingebaut werden kann. Aber natürlich bin ich zufrieden, wenn bestimmte Aufnahmen gefallen. Doch muss ich ehrlicherweise eingestehen, dass die Spezialeffekte erst durch Jean-Luc entstehen, das heisst durch das, was er mit den Bildern macht. Er hat diese unglaubliche Gabe, auch aus eigentlich banalen Bildern Kunstwerke zu schaffen.

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swissinfo.ch:. Die Handlung der Geschichte im Film scheint banal und beginnt so: «Eine verheiratete Frau trifft einen ungebunden Mann. Sie lieben sich. Sie streiten. Ein Hund irrt zwischen Stadt und Land herum…» Wie lässt sich so etwas szenisch umsetzen?

F.A.: Ein Film für Jean-Luc ist ein wenig wie ein Stängel mit kandiertem Zucker. Die Ideen kristallisieren sich im jeweiligen Moment heraus und geben dem Film seine Form. Alle Zitate von «Adieu au Langage» waren in seinem Kopf bereits vorhanden. 

Ehrenpreis des Bundes

Jean-Luc Godard (*1930) wird vom Bundesamt für Kultur (BAK) im Rahmen des Schweizer Filmpreises 2015 für sein filmisches Gesamtwerk mit dem Ehrenpreis ausgezeichnet. Er gilt als einer der führenden Vertreter der Nouvelle Vague. Der Preis ist mit 30’000 Franken dotiert. 

Mit dem Ehrenpreis für Jean-Luc Godard werde ein visionärer Filmkünstler und virtuoser Meister der Montage gewürdigt, dessen avantgardistische Werke Generationen von Filmemachern weltweit inspiriert haben, begründete die Behörde die Vergabe.

Bundesrat und Kulturminister Alain Berset wird dem Filmregisseur die «Quartz»-Trophäe anlässlich der Verleihung des Schweizer Filmpreises am 13. März in Genf überreichen. 

Der Hund Roxy gehört ihm. Er war zwei Jahre zuvor geboren worden. Jean-Luc merkte, dass die Menschen plötzlich mit ihm redeten, seit er mit dem Hund spazieren ging. Das löst bei ihm die Idee von einem Hund aus, der einem Paar hilft, die Beziehung fortzusetzen.

swissinfo.ch: Die Filme von Godard sind häufig sehr feinfühlig und sublim. Dem Publikum bleibt viel Interpretationsspielraum. Will er damit einen Kontrapunkt gegen das kommerzielle Filmschaffen setzen?

F.A.: Ich persönlich würde nicht von Interpretation sprechen, sondern von Gefühlen. Warum müssen wir immer alles interpretieren? Neben einem Bild steht auch nicht geschrieben, was es bedeutet. Das gleiche gilt für einen Film von Jean-Luc Godard zu. Jeder kann darüber anders sprechen. Es ist wie ein Kunstwerk.

Im zeitgenössischen Film finden sich immer die gleichen Geschichten, erzählt im gleichen Format. Die Filme von Jean-Luc sind komplex, das stimmt. Aber man kann ein freieres und weniger banales Kino schaffen. Wichtig ist, dem Publikum die Augen zu öffnen.

Ich bin aber überzeugt, dass Jean-Luc nicht getrieben ist von der Idee, einen Kontrapunkt zu setzen. Er arbeitet nicht gegen andere, sondern in Einklang mit sich selbst. Aber es ist sicherlich traurig, dass neun von zehn Regisseuren ihre Freiheiten nicht nutzen.

Der Film ist keineswegs tot, wie einige behaupten. Wir sind nur am Anfang, und es gibt noch viel zu erforschen. Man muss einfach die ausgetretenen Pfade verlassen.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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