Kriegsmaterialhandel: Die Schweizer Neutralität als Geschäftsmodell
Neutralität bedeutete für die Schweizer Kriegsmaterialwirtschaft meistens, einfach allen Nationen möglichst gleich viel Kriegsmaterial zu liefern – oder selten auch gar keines, um faschistische Diktatoren nicht zu verärgern.
Zu Beginn der Neuzeit ging das Gerücht durch Europa, dass Schweizer Söldner sich mit dem Bauchfett ihrer Feinde die Schuhe putzten. Krieger aus den Alpen kämpften auf allen Schlachtfeldern Europas und in den Kolonien – insgesamt eineinhalb Millionen Männer. Heute exportiert die Schweiz keine Krieger mehr, aber Kriegsmaterial.
Der Anteil der Schweiz am internationalen Kriegsmaterialhandel ist klein: Zwischen 2018 und 2022 waren es 0,7% – während die USA 40%, Russland 16% und China 5% Marktanteil hatten. Der Anteil von Kriegsmaterial am Gesamtexportvolumen der Schweiz liegt unter 0,5%.
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Wie die Schweiz vom Krieg profitiert
Doch dass ausgerechnet ein neutrales Land, das sich aus allen Kriegshändeln fernhalten will, am Krieg verdient, wird regelmässig als heuchlerisch angeprangert. Freilich war Neutralität schon im 17. Jahrhundert das zentrale Argument, alle kriegführenden Parteien mit Söldnern und kriegswichtigen Waren zu beliefern. Auch nach 1918 war die Neutralität für die damals aufgebaute exportfähige Schweizer Rüstungsindustrie eher Fördermittel als Hindernis.
Die beiden Haager Abkommen von 1907, welche die Leitplanken für die Neutralität festsetzten, verboten den Export von staatlich produziertem Kriegsmaterial – der Privatwirtschaft auferlegten sie allein eine Gleichbehandlungspflicht.
Darauf bezieht sich die Schweiz bis heute: Wenn Lieferungen an Russland untersagt sind, dann müsse das auch gegenüber der Ukraine gelten.
Gleichbehandlung bedeutete aber meistens, alle Seiten zu beliefern. Das ermöglichte, dass Schweizer Firmen im Ersten Weltkrieg im grossen Stil Uhrwerkzünder für Artilleriegranaten verkauften. Das Knowhow und die Fachkräfte lieferte die Uhrenindustrie. Der Bund sah in solchen Exporten keinen Gegensatz zur Neutralität.
Diese Neutralität beeinflusste nach dem Ersten Weltkrieg auch das Verhältnis zu den Verlierernationen. Der Versailler Friedensvertrag untersagte Deutschland und Österreich jegliche Rüstungsproduktion. Deshalb verlagerten diese ihr rüstungstechnisches Knowhow ins neutrale Ausland.
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Waffenexport und humanitäre Tradition: wie anno 1914!
Laut Peter Hug, Historiker und Experte für die Geschichte des Schweizer Kriegsmaterialhandels, begann damit der eigentliche Aufstieg der Kriegsmaterialindustrie in der Schweiz: «Revanchistische Kreise organisierten damals die illegale Wiederaufrüstung Deutschlands und Österreichs von der Schweiz und anderen neutralen Staaten aus. Das war einfach, weil es damals in der Schweiz weder für die Herstellung noch den Export von Rüstungsgütern irgendwelche Bewilligungspflichten gab. Dadurch kamen anspruchsvollere Technologie für exportfähige Rüstungssysteme wie namentlich 20-mm-Schnellfeuer-Kanonen in die Schweiz.»
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Emil Bührle: Die Kunst des Krieges
Erst ab 1938 wurde der Bundesrat – auf Druck einer Volksinitiative – verpflichtet, die Ausfuhr von Kriegsmaterial grundsätzlich zu überwachen. Doch die Handhabung blieb laut Peter Hug mehr als lax: «Das mit dem Vollzug der Bewilligungspflicht betraute Militärdepartement war gänzlich unmotiviert und schaute kaum hin.»
Im Zweiten Weltkrieg exportierte die Schweiz für 10 Milliarden Schweizer Franken Waffen und Munition – 1941 über 14% des gesamten Exportvolumens. Im Rahmen der Unabhängigen Expertenkommission Zweiter Weltkrieg ermittelte Peter Hug, dass davon 84% an Deutschland und seine Verbündeten geliefert wurden und nur je weitere 8% an die Alliierten und Neutralen.
Noch mehr strategische Bedeutung hatte die Ausfuhr kriegswichtiger Güter wie Präzisionswerkzeuge, Kugellager oder Werkzeugmaschinen, die zur Waffenfertigung oder zur Unterstützung der Truppen verwendet werden konnten: Auch davon erhielt Deutschland den Löwenanteil.
1943 mahnte der britische Aussenminister Anthony Eden: «Jeder Franken, für den die Schweiz Kriegsmaterial nach Deutschland sendet, verlängert den Krieg.» Zusammen mit den Bankgeschäften mit Deutschland verdichtete sich international das Bild von der Schweiz als einer Nation, die vom Zweiten Weltkrieg skrupellos profitiert hatte.
Keine moralisch Neutralität
Die Schweiz startete mit diesem ramponierten Ruf in den Kalten Krieg. In Bezug auf die Neutralität in der Bredouille: In einer geteilten Welt, in der sich die Schweiz klar im Westen positionieren wollte, liessen sich die Waffen nicht mehr so gleichmässig verteilen.
1968 kam es zu einem handfesten Skandal, nachdem klar wurde, dass die Waffenfabrik Oerlikon-Bührle durch Falschdeklarationen selbst in Bürgerkriegsgebiete geliefert hatte. Eine Volksinitiative forderte ein Verbot der Waffenausfuhr aus der Schweiz. Trotz ihrer Ablehnung führte sie zu einem neuen Bundesgesetz über Kriegsmaterial. Künftig durften keine Waffen mehr in Gebiete exportiert werden, in denen Krieg herrscht oder droht.
Laut Hug entstand damals erstmals eine feinmaschigere Kontrolle der Kriegsmaterialexporte. «Doch das Ermessen blieb weiterhin sehr gross.» Es kristallisierte sich heraus, dass der Bund nur die Belieferung von Staaten bewilligte, wo kein Druck durch die anderen europäischen Staaten zu erwarten war – eine Haltung, die laut Hug bis heute nachwirkt.
Dennoch diente Neutralität auch im Kalten Krieg weiter als Legitimation für den Waffenhandel: «Wir sind keine Weltpolizisten», meinte Rudolf Bindschedler, EDA-Vertreter und zentraler Neutralitäts-Stratege, noch 1976. Hiess: Es steht der Schweiz als neutralem Staat nicht zu, jemandem eine Lieferung zu versagen. Damals wurde die Lieferung von schwerem Wasser zur Plutoniumherstellung an das Regime in Argentinien kritisiert, das unter dem Verdacht stand, eine Atombombe bauen zu wollen.
Wo die Regulierungen eine Ausfuhr verboten, umgingen Schweizer Waffenfirmen sie zum Beispiel mit der Vergabe von Lizenzverträgen. So lieferte die Firma SIG keine Sturmgewehre an Chiles Militärdiktatur, sondern die Pläne und Maschinen, um sie dort herzustellen und verdiente an der Lizenz.
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Napalm aus den Alpen
Bis heute wird diskutiert, was unter das Kriegsmaterialgesetz fällt und was nicht. Die Pilatus-Militärtrainer beispielsweise haben keine zivile Nutzung – dafür wären die Flugzeuge viel zu teuer. Als der Bundesrat diese in den 1990er-Jahren dem Kriegsmaterialgesetz unterstellen wollte, stoppte ihn das Parlament. Es sah nicht einmal ein Problem darin, wenn Pilatus-Flugzeuge nachträglich bewaffnet wurden.
Gefragt nach dem grössten Schlupfloch für die Rüstungsindustrie, meint Peter Hug trocken: «Lobbying bei bürgerlichen Parteien.»
1996 verschärfte man das Kriegsmaterialgesetz, erneut auf Druck einer Volksinitiative. Zusätzlich unterwarf das neue Güterkontrollgesetz den Export «besonderer militärischer Güter» sowie von Dual-use-Gütern – wie ABC-Schutzanzüge, Trainingsflugzeuge und GPS-Systeme – einer Ausfuhrkontrolle.
Doch seit 2009 stehen die Zeichen auf Lockerung – einerseits hat sich die Schweizer Stimmbevölkerung in einer weiteren Abstimmung deutlich für die Kriegsmaterialindustrie ausgesprochen, andererseits gingen die landesinternen Ankäufe der Schweizer Armee seit dem Ende des Kalten Krieges stark zurück.
Pazifismus für Franco
Mit der russischen Annexion der Krim änderte sich in ganz Europa die Stimmung. «Seither sind die Militärausgaben in der ganzen nördlichen Hemisphäre wieder in einem kräftigen Wachstum begriffen. In diesem Sog hat auch der Bundesrat seine Bewilligungspraxis gelockert», sagt Hug. Die Rüstungslobby hatte bereits 2013 über eine «Benachteiligung der Schweizer Sicherheitsindustrie» geklagt.
2016 lockerte der Bundesrat seine Praxis bedeutend, als er entschied, Saudi-Arabien trotz Jemen-Krieg weiterhin zu beliefern. Ein Bürgerkrieg sei rechtlich anders zu beurteilen als ein zwischenstaatlicher Krieg, behauptete der Bundesrat. Dass Saudi-Arabien als kriegführendes Land auch 2022 wieder für 120 Millionen Franken Kriegsmaterial aus der Schweiz beziehen konnte, die Ukraine aber keines, erntet viel Unverständnis.
Die Schweiz steckte bereits einmal in einer ähnlichen Situation. 1946 verbot der Bundesrat die Ausfuhr von Kriegsmaterial ganz – dies jedoch weniger in Gedenken an die Toten auf den Schlachtfeldern Europas. Am Ende des Krieges hatte namentlich Bührle das faschistische Spanien mit Kanonen beliefert, da Deutschland sie nicht mehr bezahlen konnte. Die UNO bezeichnete diese Lieferungen als «Gefährdung des Friedens» und beschloss ein Embargo. Die Schweiz geriet unter Druck. Um Franco durch ein «einseitiges Waffenausfuhrverbot» nicht zu verärgern, entschied sich der Bundesrat für ein vollständiges Waffenausfuhrverbot.
Für Hug ein Präzedenzfall, der der heutigen Situation gleicht: «Dieser Kniefall vor Franco ist leider von den Pazifist:innen nicht als solcher erkannt worden, die seither die Idee des vollständigen Waffenausfuhrverbotes hochhalten. Obschon es im Fall eines eindeutigen Aggressionskrieges dem Angreifer nützt und den Überfallenen schwächt, der sich gestützt auf die UNO-Charta zu Recht verteidigt.»
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