Lieben, Leiden und Asylpolitik im Schrebergarten
Auf dem Hausberg über der Stadt Bern herrscht das "Paradies": So heisst das Stück, welches das Freilichttheater Gurten in diesem Sommer spielt. Regisseurin Livia Anne Richard schrieb es frei nach dem preisgekrönten Dokfilm "Unser Garten Eden" des kurdischen Regisseurs Mano Khalil, der seit 1995 in der Schweiz lebt.
Über das «Paradies» auf dem Berner Hausberg streicht ein frischer Wind. Ein gutes Dutzend Landesflaggen, neben der Schweizer u.a. jene Italiens, der Türkei, Kurdistans, Serbiens und Bosniens, flattern stramm Richtung West. Die farbigen Stoffe markieren die Kleinst-Territorien, die Herkunft ihrer Bewohner sowie deren friedliches Miteinander in ihrer kleinen, grünen Welt.
Der Schrebergarten, auf vier Ebenen terrassiert, um Fläche zu gewinnen, ist das aufwendigste Bühnenbild, welches das Theater Gurten seit dessen Gründung 2002 durch Richard bespielt.
Zwei Bewohner des Paradieses: Jamal und Evelyne. Er: Asylsuchender aus dem Sudan, dessen Gesuch abgelehnt wurde und der nun in einem Häuschen im Familiengarten untertaucht, um der Ausschaffung zu entgehen.
«Paradies»/Freilichttheater Gurten
Das Freilicht-Theaterstück wird vom 27. Juni bis 21. August (31 Aufführungen) auf dem Berner Hausberg Gurten gespielt.
Auf der Bühne wirken rund 30 Darstellerinnen und Darsteller mit, die Menschen aus 10 Ländern repräsentieren.
Das Budget der 12. Produktion des Theater Gurten beträgt rund eine Mio. Franken.
Das Freilichttheater Gurten wurde 2002 von der Berner Regisseurin und Autorin Livia Anne Richard gegründet. Sie ist auch Initiantin und künstlerische Leiterin des Berner Theater Matte, das seit 2010 existiert.
Grösster bisheriger Erfolg auf dem Gurten war 2006 «Dällebach KariExterner Link«. Das Stück hat andere Schweizer Kulturschaffende inspiriert, sich mit der Figur Karl Tellenbachs, wie der legendäre Berner Friseur hiess, auseinander zu setzen.
2010 wurde auf der Thuner Seebühne ein gleichnamiges Musical zu einem Riesenerfolg. 2011 drehte Oscar-Preisträger Xavier Koller den Film «Eine wen iig, dr Dällebach Kari» («Einer wie ich, Karl Tellenbach»), der auf Richards Stück basierte.
Sie: Studentin und Tochter einer Lokalpolitikerin aus dem linken Lager, welche das Hohelied auf die Toleranz singt. Das ungleiche Paar sitzt im Schrebergarten, sie küssen sich zum ersten Mal. Doch sofort vertreibt Jamals prekärer Status alle Schmetterlinge aus seinem Bauch.
«Halt Stopp, das wirkt zu stark wie Hänsel und Gretel!», interveniert Livia Anne Richard. Die Regisseurin und Autorin gibt Darsteller Tarig Abdalla, er stammt tatsächlich aus dem Sudan, ein paar knappe, aber präzise Anweisungen. Erst nach mehreren Anläufen spielt Jamal/Abdalla die Szene genau so, wie sie Richard im Kopf hat. «Pause», ruft sie und steckt sich eine Zigarette an.
Welttheater unter dem Mikroskop
«Im Schrebergarten sind alle gleich, es gibt kein Reich und Arm, alle Parzellen sind gleich gross und alle Häuschen gleich gebaut», sagt die Gründerin des Theater GurtenExterner Link. «Der Schrebergarten ist ein Welttheater unter dem Mikroskop, eine Metapher auf die grossen Konflikte in der Welt. Im Grossen wie im Kleinen, unten und oben: Immer und überall zeigen sich dieselben Probleme.»
Diese entzünden sich in ihrem neuen Stück am Gemeinschaftsgrill. «Die Serben sagen ‹Scheissgrill›, weil sie darauf kein ganzes Spanferkel braten können. Die Türken wollen ihr Lamm braten, ohne dass es mit dem Schweinefleisch in Berührung kommt. Und die Schweizer haben Angst, dass kein Platz mehr bleibt für ihre Bratwürste», sagt Richard.
«Als ich Mano Khalils Film sah, war ich zu Tränen gerührt und wusste sofort, dass ich aus dem Stoff ein Theaterstück machen wollte», erzählt sie. Am nächsten Tag rief sie Khalil an, und der Regisseur gab sein Einverständnis.
Zoom vs. Totale
Die Theaterautorin stand nun vor der Herausforderung, wie sie das «Kaleidoskop des Dokfilms, in dem Mano die verschiedenen Menschen im Schrebergarten so wunderbar porträtiert», auf die Theaterbühne bringen konnte.
«Im Dokfilm kann man Zoomen. Das Freilichttheater dagegen ist immer eine Totale, weil die Zuschauer ständig das Ganze sehen», beschreibt Richard den Hauptunterschied zwischen den beiden Erzählformen.
Deshalb habe sie sich komplett von der Vorlage lösen müssen. «Im Freilichttheater braucht es Volksszenen und eine starke Geschichte als roten Faden.» Sie schuf die Figuren Jamal und Evelyne und deren vertrackte Liebesgeschichte, die das Leben im Schrebergarten-«Paradies» in den Grundfesten erschüttert, inklusive dem Credo von Evelynes Politikerinnen-Mutter.
Magische Momente schaffen
Gemeinsam sei Khalils Dokfilm und ihrem Theater «die ewige Suche nach der absoluten Authentizität», fährt sie fort. «Es ist etwas vom Berührendsten, wenn die Menschen in einem guten Dokumentarfilm die Kamera vergessen, weil es dem Regisseur gelungen ist, ein Vertrauensverhältnis zu ihnen aufzubauen.»
Khalis Vorlage habe sie inspiriert, ihren Weg als Theaterregisseurin «noch konsequenter» zu gehen, indem sie versucht, diesen magischen Effekt auf ihr Theaterstück auf dem Gurten zu übertragen. «Ich möchte, dass die Zuschauerin und der Zuschauer vergessen, dass sie im Theater sitzen, und der Schauspieler vergisst, dass Zuschauer dasitzen. Der Funke springt dann nicht mehr auf das Publikum, weil die Schauspieler etwas darstellen wollen, sondern, weil eine Meta-Ebene entsteht, und er von dort auf die Zuschauer überspringt.»
Die Auseinandersetzung mit Khalils Werk hat zudem Richards Lust geweckt, selbst einmal einen Dokfilm zu drehen. «Es ist ein Format, das mich extrem interessiert, weil es sehr direkt und ehrlich ist. Fiktion erreicht mich nie so stark wie ein Dokfilm», bekennt sie.
Geschichte weiterschreiben
Für Mano KhalilExterner Link, der 1993 aus Syrien flüchten musste und seit 1995 in der Schweiz lebt und arbeitet, ist es ein «Erfolg», wenn sein Film zu einem Theaterstück inspiriert. «Meine Kunst, also meine Filme, sind von Menschen für Menschen gemacht. Livia Anne Richard hat aufgrund meines Filmes eine ähnliche Geschichte geschrieben, und ich freue mich, wenn meine Geschichte über die Menschen im Schrebergarten auf diese Weise weiter geschrieben wird. Es ist wie eine Pflanze, die man giesst, damit sie nicht verdorrt und stirbt.» Mit Künstlern, «die stets die absolute Kontrolle über ihr Werk behalten müssen», hat er Mühe.
Auf einer Differenz zwischen seinem Film und Richards Umsetzung für die Theaterbühne aber beharrt er: Die Authentizität. «Ich habe selber einen Schrebergarten und habe dort mit den Menschen, die ich in meinem Film porträtierte, zusammengelebt und ihre Welt physisch gespürt. Sie spielen nicht, vielmehr ist der Schrebergarten ihr Alltag. Wenn jemand den Sohn verliert und vor der Kamera weint, weinte ich mit.»
Die gelebte Nähe des Schrebergärtners Khalil zu seinen Mitmenschen hinderte den Filmemacher Khalil aber nicht daran, auch die tragisch-abgründige Dimension zu registrieren, die das Leben hinter der Bretterwand oft auch prägt. «Manche sehen nur die zwei Meter, die vor und hinter ihnen liegen. Ihre Welt hört am Zaun auf, und sie wollen nicht wissen, was dahinter kommt, sie leben wie in einem selbstgewählten Gefängnis.»
Dass es ein Kurde aus Syrien ist, der den Schweizern den Schrebergarten als eine Art Ur-Entwurf einer egalitären – und auch streng reglementierten – Weltgemeinschaft im Kleinen zeigt, ist für Khalil keine Überraschung. «Die Dinge, die den Schweizern vor den Augen liegen, sind für sie eine Selbstverständlichkeit. Ich aber komme aus Syrien, einem Land, in dem unsere Kultur verboten ist und ins Gefängnis kommt, wer kurdisch spricht. Deshalb ist dieses friedliche Miteinander für mich etwas Besonderes.»
Mano Khalil
Der Kurde lebt und arbeitet seit 1995 als Regisseur, Produzent und Kameramann in der Schweiz.
Khalil hat sich vor allem mit seinen Dokumentarfilmen einen Namen gemacht.
2013 errang er mit «Der Imker» zahlreiche Preise, darunter den Prix de Soleure (Solothurner Filmpreis). 2014 war das Werk zudem für den Schweizer Filmpreis nominiert (bester Dokumentarfilm).
Für «Unser Garten Eden» erhielt Khalil u.a. den Berner Filmpreis 2010. Ebenfalls für den Schweizer Filmpreis nominiert (2011).
Sein neuer Film «Die Schwalbe» ist ein Roadmovie, in dem Khalil den Bogen von der Schweiz in den kurdischen Teil Iraks schlägt.
Die Ko-Produktion mit dem Schweizer Fernsehen SRF feiert Anfang 2015 Premiere.
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