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Olga, Elie und der Oscar: Ein bemerkenswertes Schweizer Filmdebüt

Szene aus dem Film Olga
Elie Grappes Spielfilmdebüt Olga ist die Geschichte einer 15-jährigen Turnerin, die mit ihrer doppelten Identität zu kämpfen hat: Sie ist Schweizerin und Ukrainerin. Promotional

"Olga". So heisst der erste Spielfilm des jungen in Frankreich geborenen Regisseurs Elie Grappe, der seit 12 Jahren in der Schweiz lebt. Er konnte bereits international Erfolge feiern und wurde kürzlich an den 57. Solothurner Filmtagen gezeigt. "Olga" hatte es auch auf die Longlist für die Oscar-Verleihung 2022 in der Kategorie "Bester internationaler Spielfilm" geschafft.

«Entschuldigen Sie die Verspätung, ich bin grad etwas beschäftigt.» Als wir unser Videogespräch mit einer Viertelstunde Verspätung beginnen, erzählt Elie GrappeExterner Link, dass er die meiste Zeit des Tages in seinem Haus in Vevey bei Lausanne verbringe, um das Drehbuch für seinen nächsten Spielfilm zu schreiben.

Es ist ein Historienfilm, der in den 1930er-Jahren spielt und Grappe wieder mit dem Produzenten Jean-Marc Fröhle zusammenbringt. Das Gespann hat mit ihm bereits die beiden Filme gedreht, die Grappe international bekannt gemacht haben – den Kurzfilm «Suspendu» (Suspended, 2015), der auf über 60 Festivals gezeigt wurde, sowie «Olga».

«Olga» feierte am 20. Januar seine Deutschschweizer Premiere im Rahmen der 57. Solothurner Filmtage, die vom 19. bis zum 26. Januar stattfinden. Dort konkurrieren acht Filme um den «Prix de Soleure».

Auf gewisse Weise ist dies der logische Abschluss einer Reise, die im August 2020 in einem anderen Teil des Landes begann. Aufgrund der Pandemie hatte das Filmfestival von Locarno sein übliches Format auf Eis gelegt und sich dafür entschieden, Filme in den Mittelpunkt zu stellen, deren Produktion durch die Pandemie beeinträchtigt worden war.

«Olga», dessen Dreharbeiten noch zwei Wochen andauerten, als Mitte März 2020 der erste Lockdown begann, gehörte zu den zehn Schweizer Projekten, die im Rahmen des Sonderwettbewerbs «The Films After Tomorrow» für das Festival von Locarno selektioniert worden waren. Er ist nun einer der fünf Filme aus dieser Auswahl, die in Solothurn zu sehen sind.

Regisseur Elie Grappe
Elie Grappe wurde 1994 in Frankreich geboren und absolvierte eine musikalische Ausbildung am Nationalen Konservatorium in Lyon (Frankreich). Nach dem Besuch des Vorbereitungskurses an der «École Cantonale d’Art de Lausanne» (ECAL) studierte er anschliessend Film. Sein Kurzdokumentarfilm «Rehearsal» (2014) wurde für die Filmfestivals IDFA, Clermont-Ferrand und Krakau ausgewählt. Sein Kurzspielfilm «Suspendu» (2015) wurde auf 60 Filmfestivals weltweit gezeigt und gewann zahlreiche Preise. Keystone / Laurent Gillieron

Ukrainisches Drama in der Schweiz

Vor dem Hintergrund der grossen Proteste in der Ukraine Ende 2013 erzählt «Olga» die Geschichte einer 15-jährigen Kunstturnerin, die mit ihrer doppelten Identität zu kämpfen hat: Sie ist sowohl Schweizerin als auch Ukrainerin.

Als Turnerin trainiert sie wie eine Schweizerin [dank der Nationalität ihres abwesenden Vaters], während ihre Mutter als Journalistin vor Ort in Kiew berichtet und sich täglich Gefahren aussetzt. Im Bemühen um Authentizität hat Grappe die Hauptrollen mit echten Turnerinnen besetzt.

Covid-Opfer im Cast

Als die Dreharbeiten im März 2020 unterbrochen wurden, musste der junge Regisseur sein Projekt neu überdenken. Positiv war, dass der Film eine nur sehr wenige Hauptdarstellerinnen und -darsteller hatte und nur an einer Handvoll Drehorten spielte, so dass das Scipt an sich schon «pandemiefreundlich» war.

Andere Aspekte seien jedoch ausserhalb der Kontrolle der Produktion gelegen, berichtet Grappe: «Der Film spielt im Winter, wegen des realen Euromaidan-Kontexts, so dass es schwierig war, die Dreharbeiten in den Sommermonaten abzuschliessen. Und leider ist eine Person, die wir gecastet hatten und die in der zweiten Hälfte des Films hätte mitspielen sollen, aufgrund von Covid-19 verstorben.»

Externer Inhalt

Blitzlichter in Cannes

Wir schreiben den Juli 2021. «Olga», zu dem Grappe inklusive den Dreh fünf Jahre lang recherchiert und gearbeitet hatte, feierte schliesslich bei den Filmfestspielen von Cannes in der Sektion der KritikerwocheExterner Link vorgestellt.

Das sei eine aufregende Erfahrung gewesen, aber auch ein wenig surreal. «Wir haben die Tonmischung fünf Tage vor der Premiere fertiggestellt, daher fühlte es sich anfangs noch nicht ganz real an», sagt Grappe. «Ich war nicht zum ersten Mal in Cannes, aber ich hatte noch nie ein eigenes Werk präsentiert. Und es war erstaunlich zu sehen, dass die Kinosäle dort voll besetzt waren.»

Weniger als zwei Monate danach wurde «Olga» als Schweizer Beitrag für die Oscar-Verleihung in der Kategorie «Bester internationaler Spielfilm» ins Rennen geschickt. Aber der Film schaffte es nicht in die engere Auswahl, die der offiziellen Nominierung vorausgeht. Der letzte Schweizer Film, der es bis in die Preisverleihung schaffte, war Xavier Kollers «Reise der Hoffnung», der 1991 schliesslich die begehrteste Auszeichnung des Filmgeschäfts gewann.

Das mag die Chancen beeinträchtigt haben, einen amerikanischen Verleiher zu finden [die Suche läuft aktuell noch], aber die Oscar-Kampagne brachte trotzdem willkommene Publizität.

Grappe erklärt: «Ich bin zweimal in die Vereinigten Staaten gereist, nachdem wir ausgewählt wurden, und habe mich mit einer Talentagentur getroffen, der CAA (Creative Artists Agency). Das ist eine grosse Sache, nicht nur für meine Karriere, sondern auch für andere Schweizer Projekte. Auch für solche, an denen Jean-Marc Fröhle arbeitet und an denen ich nicht beteiligt bin.»

Die «French Connection»

Der Sprung auf die Longlist macht ihn auch stolz. «Ich fühle mich bestätigt, dass ich als Schweizer Filmemacher anerkannt werde, da ich seit 12 Jahren hier lebe», sagt Grappe. Er wurde 1994 in Lyon geboren, zog 2010 in die Westschweiz und schloss 2015 sein Filmstudium an der «École cantonale d’art de Lausanne» (ECAL) ab.

Sein Abschluss-Kurzfilm «Suspendu», ist auf der Plattform «Play Suisse»Externer Link zu sehen. Er ist eine Art Vorprojekt von «Olga», da schon der Erstling den menschlichen Körper in einem sportlichen und kompetitiven Kontext zeigt.

Wie fühlt es sich an, wenn Frankreich versucht, «Olga» als eine französische Produktion zu beanspruchen, wie dies kürzlich in einer Titelgeschichte der französischen Zeitschrift «Le Film Français»Externer Link der Fall war?

«Sie machen das, wenn es ihnen passt, als koproduzierendes Land. Aber die Finanzierung war hauptsächlich schweizerisch. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe nichts dagegen, in Frankreich zu arbeiten, aber ich fühle mich hier zu Hause. Und ich bin begeistert, dass auch mein nächster Film in der Schweiz finanziert wird», sagt er.

Gegen Ende des Gesprächs sprechen wir über das Klischee im Ausland, dass das Schweizer Kino keine eigene Identität hat – nicht zuletzt, weil die meisten Filme ausserhalb ihrer Sprachregionen nicht wirklich bekannt sind, abgesehen von Festivals und digitalen Plattformen.

«Das ist in der Tat ein Problem», sagt der Filmemacher, räumt aber ein, dass er persönlich nicht wirklich etwas dazu sagen kann. «Ich kann mich nicht beschweren, denn mein Film hat einen landesweiten Start erhalten.» Nachdem «Olga» bereits in den französisch- und italienischsprachigen Regionen angelaufen ist, wird er ab dem 24. Februar auch in den Deutschschweizer Kinos zu sehen sein.

Was die nationale Filmszene betrifft, so hält er alle im Ausland herumgebotenen Vorurteile für falsch. Nicht nur, weil er ein Franzose ist, der die Schweiz zu seinem persönlichen und kreativen Zentrum gemacht hat. «Das Filmschaffen in diesem Land ist sehr stark, mit sehr interessanten Arbeiten von jüngeren Talenten wie etwa Andreas FontanaExterner Link oder Cyril SchäublinExterner Link«, sagt er.

«Wir haben diese grosse Vielfalt, die für ein breites Publikum zugänglich ist und die auch Unterstützung und Finanzierung erhält, um an interessante Orte zu gehen, speziell Dokumentarfilme. Ich finde es toll, dass eine Supermarktkette wie die Migros Arbeiten finanziell unterstützt, die mit ihrer Bildsprache ziemlich kühn und radikal sind.»

Grappe hat keinen Grund, nicht optimistisch in die Zukunft der Schweizer Filmindustrie zu blicken. Und das nicht nur, weil er ein vielversprechender Teil von ihr ist.

(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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