«Pippo, mach was draus!»
Pippo Delbonos Filme und Theaterstücke, die bis zur Schmerzgrenze gehen können, verschaffen "dem Publikum einen vertieften und persönlichen Eindruck ins Italien von heute", sagt Festivaldirektor Frédéric Maire.
Er sei mit grosser Offenheit im Denken und «ausserordentlicher Kreativität» gesegnet, sagt Maire weiter über Delbono. Deshalb habe er sich nicht nur im Theater viel Renommée verschafft, sondern sich in den letzten Jahren auch «zu einem der interessantesten Regisseure des italienischen Filmschaffens» entwickelt.
Der Ehrengast des 62. Internationalen Filmfestivals von Locarno bleibt jedoch bescheiden: «Um Schauspieler zu werden, bedarf es keiner grossen Bildung», sagt er.
Mit dieser Aussage an einem Gespräch zum Thema «Vom Theater zum Kino und umgekehrt», spricht der Schauspieler, Theater- und Filmregisseur Bobo an. Bobo, der schon in mehreren Theaterstücken und Filmen Delbonos in Aktion war, ist taubstumm und lebte 50 Jahre in einer psychiatrischen Anstalt.
Charakterkopf
Tatsächlich, auch wenn Bobo ein wichtiges Ausdrucksmittel eines Schauspielers fehlt, gelingt es ihm, fast alles sprachlos auszudrücken. Dabei hilft dem leicht Hinkenden auch sein Charakterkopf, der auch ohne Worte mehr auszusagen vermag, als manch minutendauernder Redeschwall.
Delbono hat Körperlichkeit, die für ihn im Theater und Kino eines der wichtigsten Ausdrucksmittel überhaupt ist, in China und Indonesien studiert. Erst im Osten habe er gelernt, seinen Körper in seinen unterschiedlichen Teilen zu spüren. Das helfe ihm sehr bei der Darstellung seiner Film- wie Theaterrollen.
Er weiss, dass er mit Unbeweglichkeit, statischem Auftreten Aufmerksamkeit erzeugen kann. «Aber auch Tanz gehört dazu, denn Bewegung ist wichtig.»
«Auf der Bühne oder der Leinwand muss man schön sein im Moment der Hässlichkeit, jung im Moment des Alters». Wer das ausdrücken könne, müsse nicht die ganze Zeit sprechen.
«Pippo, mach was draus!»
Echtheit ist eines von Delbonos Hauptanliegen bei der Performance einer Rolle oder bei der Gestaltung eines Films. Und so hat er nicht lange gezögert, als man ihm ein Mobiltelefon mit Videokamera in die Hand drückte und sagte, «Pippo, mach was draus!»
Entstanden ist ein Spielfilm, komplett mit der Handykamera gedreht – mit allen Vor- und Nachteilen, die diese Technik aufweist. Klar, Cinemascope darf man nicht erwarten.
Aber reale Situationen, Gespräche, Wut- und Freudenausbrüche lassen sich damit in einer seltenen Intensität darstellen.
Und mit diesem extrem die Realität betonenden Arbeitsgerät leuchtet er gnadenlos die Abgründe der italienischen Gesellschaft aus. Er ist dabei auf der Beerdigung jenes nordafrikanischen Jugendlichen, der 2008, weil er ein Paket Bisquits gestohlen hatte, wie ein Hund gejagt und umgebracht wurde.
Er prangert dabei an, dass kein Behördenvertreter an der Trauerfeier anwesend war, ausser einem Carabinieri, dem es offensichtlich nicht wohl war, in seiner Haut. Und Delbono schämt sich lautstark für die nicht anwesenden Politiker, Gewerkschafter, Kirchenvertreter und Kommunisten und entschuldigt sich für dieses «Scheissland».
Irre Realität
«La Paura» zeigt auch einen übergewichtigen Arzt, der von einer Pandemie übergewichtiger Kinder spricht und gute Ratschläge erteilt. Diese schon fast irreale Situation verstärkt Delbono noch, indem er die entsprechende Fernsehsendung sehr nahe von einem digitalen Fernseher aufnimmt.
Er rückt Andersdenkende ins Bild, Nomaden, Romas. Er klagt Politiker an und seine Landsleute: «Es ist euer Europa – und ihr habt die Regeln gemacht.»
Und seine Blicke in die modernen Slums italienischer Grossstädte, wo zum Beispiel Romas in unbeschreiblicher Armut hausen, rütteln auf. Auch die beiden Roma-Jungen, die mit kleinen Hunden spielen und sich kindlich freuen, fotografiert zu werden und stolz mit den Welpen posieren.
Und auch in diesem Film hat Bobo einen Auftritt. Delbono beschreibt Bobo, den Analphabeten, als «frei wie ein gefangener Wolf, der zum nahen Wald starrt».
Mit seiner Handykamera betreibt er aber nicht nur Studien an anderen. Auch sich selbst nimmt er zuweilen gnadenlos ins Visier. Er filmt sich, seinen Bauch, seine Geschlechtsteile.
Kulturelle Leere
«Kultur bedeutet Engagement für die kommenden Generationen und nicht für die kommenden Wahlen», ist eines von Delbonos Leitworten.
Er beklagt auch die «kulturelle Leere» in Italien. Um diese Leere zu füllen, klammere man sich an jeden der das ewige Leben verspreche und spricht dabei die Rolle von Kirche und Staat an.
Aber auch den Verwaltern des kulturellen Erbgutes fährt Delbono an den Karren: «In Italien ist man auf das Bewahren spezialisiert. Eine Erneuerung findet nicht statt.»
Mit seinem Film habe er sich «in meine und die Alpträume meines Landes geschlichen.»
Etienne Strebel, Locarno, swissinfo.ch
Bereits als Schüler machte Delbono Bekanntschaft mit dem Theater und später daraus einen Beruf. 1986 gründete er zusammen mit dem argentinischen Schauspieler Pepe Robledo ein eigenes Ensemble.
Delbono sammelte mehrere Jahre in Dänemärk, China und Bali Theatererfahrungen. Seine Stücke und Filme, in denen er oft die Hauptrolle spielt, provozieren und sind von einer unbändigen Neugier geprägt.
Filme
Her bijit (1999)
Guerra (2003)
Il silenzio (2005)
Grido (2006)
Gente di plastica (2006)
The love factory #3 (2008)
L’india che danza (2009)
La paura (2009).
Theater
In «Il muro» (1990) – eine Hommage Pier Paolo Pasolini – erzählt er von der Einsamkeit, «Barboni» (1997) hat er dem Leiden Randständiger gewidmet. Darin treten auch Geistig Behinderte auf und «Urlo» (2004) legt die Unterdrückungsmechanismen der Gesellschaft offen. Sein letztes Theaterstück «La menzogn» (2008) wurde bereits an mehreren europäischen Theaterfestivals aufgeführt.
Delbono wurde nebst vielen anderen Preisen vorher 2009 mit dem «Premio Europea Nuove Realtà Teatrali» ausgezeichnet.
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