Regisseurin Dea Gjinovci: «Denkmäler können kein Mitgefühl erzeugen, Filme schon»
Die Schweiz-kosovarische Filmszene beschäftigt sich oft mit den psychischen Narben, die der Kosovo-Krieg hinterlassen hat. Die Genfer Regisseurin Dea Gjinovci erzählt, warum das so ist und wie diese Filme dem Kosovo eine Form von Bewältigung bieten.
Die 30-jährige Regisseurin Dea Gjinovci ist in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Aber auch wenn sie die serbische Unterdrückung und den Krieg nicht selbst erlebte – das Schicksal ihrer Familie hat sie geprägt: «Traumata werden über Generationen hinweg weitergegeben.»
Kriege hinterlassen Spuren über den Friedensschluss hinaus. Die Konsequenzen von Krieg sind vielfältig: Nicht nur wirtschaftlich und politisch, sondern worüber nur wenig gesprochen wird: auch psychologische.
«Die Geschichte eines Landes formt dein Schicksal, sie formt deine Identität», sagt Dea Gjinovci. Die Schweiz-Kosovarin aus Genf ist Filmemacherin. In ihren Arbeiten beschäftigte sie sich mit dem Kosovokrieg und dem kollektiven Trauma, das dieser verursacht hat.
Ihre Familie floh noch vor Kriegsbeginn in die Schweiz. Ihr Vater, Asllan Gjinovci, war im Jahr 1968 Physikstudent an der Universität Pristina, als er relativ überstürzt flüchtete. Als Teil der aktivistischen Protestbewegung, die die Autonomie Kosovos von Jugoslawien forderte, wurde er politisch verfolgt und ins Exil gezwungen.
Gjinovci fand im Film einen Weg, die traumatischen Erlebnisse ihrer Familie zu verarbeiten. «Ich will auf diesem Weg besser verstehen, wie die Vergangenheit meines Vaters auch mein Leben beeinflusst hat und es noch immer tut», sagt sie.
Ihr persönlicher Prozess ist gleichzeitig ein gesellschaftlicher: In Kosovo finden viele Menschen oft noch keine Worte für das Trauma, das ihnen durch den Krieg widerfahren ist. Die Filme aus der Schweizer Diaspora sind auch im Land selbst zu einer Form der Bewältigung geworden.
In Kosovo sei das kollektive Erinnern von Heldenfiguren geprägt, so Gjinovci. Es finde eine Glorifizierung des Krieges statt. Das kreiere zwar ein Gefühl der Einheit als Nation, aber keinen Raum für eine Aussprache über Trauer und Schmerz, ist die Filmemacherin überzeugt. «Denkmäler sind eine Form des Erinnerns, aber Denkmäler können kein Mitgefühl erzeugen. Filme schon.»
Eine «Kosovar New Wave» im Film
Gjinovci ist Teil einer Generation junger Schweiz-kosovarischer Filmemacher:innen deren Schaffen zwei Dinge verbindet: Ihre Werke bilden eine Form von künstlerischer Aufarbeitung des Kriegs als Trauma – und sie sind äusserst erfolgreich.
In den letzten Jahren haben sich junge Schweiz-kosovarische Filmemacher:innen wie Fisnik Maxville, Aulona Selmani und Ilir Hasanaj in der internationalen Filmszene etabliert. In der Branche ist die Rede von einer Kosovar New WaveExterner Link. «Eine beeindruckende Leistung für Kosovo – ein Land, das so klein ist und dessen Existenz noch immer von manchen Nationen nicht anerkannt wird», sagt Gjinovci.
Es fällt auf, es sind vor allem Kosovar:innen in der Diaspora, die in der Filmbranche Fuss fassen konnten. Das liege, so Gjinovci, einerseits an den besseren Startbedingungen – punkto Ausbildung und Finanzierung – in Ländern wie der Schweiz, den USA oder Grossbritannien. Andererseits seien die kosovarischen Filmemacher:innen in der Diaspora «in gewisser Weise» intensiver mit Fragen zu Identität konfrontiert.
Auf den Spuren von Vaters Flucht
Ihr erster Film, Sans le Kosovo, erschien 2017 und handelt von ihrem Vater Asllan und seinem strapazenreichen Weg in die Schweiz. Gjinovci machte sich für den Dokumentarfilm gemeinsam mit ihrem Vater auf eine Reise, die seine Vergangenheit nachzeichnet – entlang von seinem dreijährigen Fluchtweg, der ihn über Kroatien und Italien schliesslich in die Schweiz geführt hatte.
Von einem italienischen Asylcamp aus reisen sie gemeinsam zurück nach Kosovo, in Asllan Gjinovcis Geburtsort. «Für mich als seine Tochter fühlte sich Kosovo wie ein unbekannt gebliebener Teil meiner Identität an, der vor allem durch die Nachrichten der 90er-Jahre über den Kosovo-Krieg geprägt wurde», sagt die Regisseurin. Die Produktion des Dokumentarfilms sei darum nicht nur für ihren Vater, sondern auch für sie eine persönliche Spurensuche gewesen.
Mit ihrer ersten Produktion gewann Gjinovci den Preis als «Bester Nationaler Film» des Dokufest PrizrenExterner Link, einem international bedeutetenden kosovarischen Filmfestival.
«Empathie ist etwas Kraftvolles»
Ein anderes Werk, das international hoch gelobt wurde, ist Hive der US-kosovarischen Filmemacherin Blerta Basholli. Es ist der bisher vielleicht wichtigste Spielfilm der «Kosovar New Wave». Der Film basiert auf wahren Ereignissen und erzählt die Geschichte von Fahrije, deren Ehemann während des Kosovo-Kriegs 1999 verschwindet. Trauer über den Verlust, aber auch Geldprobleme lasten schwer auf ihr und ihrer Familie. Fahrije gründet dann ein kleines Unternehmen, um ihre Familie versorgen zu können – und wird dafür in ihrem traditionell und patriarchal geprägten Dorf geächtet.
Mit Hive gelang der Filmemacherin Basholli etwas, was vor ihr noch kein kosovarischer Film geschafft hatte: Er landete auf der Shortlist der Oscarnominierungen. Aber viel wichtiger war eigentlich, was er bei den Menschen in Kosovo auslöste. «Hive hat eine grosse kulturelle Wirkung erzielt», sagt Dea Gjinovci. In Kosovo stossen Filme wie Hive auf grosse Resonanz. Die Menschen empfänden es als Form der Anerkennung ihres Leidens. Sie fühlten sich gesehen, so Gjinovci.
Längst nicht nur Kosovar:innen, die sich in der Geschichte wiederfinden konnten, haben den Film gesehen. Hive erreichte international ein breites Publikum. «Nicht alle, die den Film gesehen haben, können nachempfinden, wie es den Menschen nach dem Krieg ergangen ist. Aber sie können Mitgefühl haben. Diese Empathie, die dadurch entsteht, ist etwas sehr Kraftvolles», sagt Gjinovci.
Gerade in der Schweiz, wo die kosovo-albanische Diaspora etwa 250’000 Menschen zählt, seien Filme wie Hive auch für Aussenstehende, die Kosovar:innen zwar persönlich, aber nicht ihre Geschichte kennen, eine Chance, mehr zu verstehen. «Es geht für mich darum, die eigene Herkunft anzuerkennen, aber auch das Narrativ, das um Albanerinnen und Albaner in der Schweiz herrscht, eigenmächtig zu gestalten», sagt Gjinovci. Das Interesse für Filme über Kosovo und den Krieg ist auch in der Schweizer Gesellschaft gross. Davon zeugt zum Beispiel das Schweizer Filmfestival Kino KosovaExterner Link, das auch viele Menschen ohne persönlichen Bezug zu Kosovo anzieht.
Traumata über Generationen in Reveil sur Mars
Dass die kollektive Aufarbeitung von serbischer Repression, Krieg und Flucht erst allmählich stattfindet, wundert Gjinovci nicht. «Es dauert lange, bis traumatisierte Menschen dazu in der Lage sind zu artikulieren, was ihnen widerfahren ist», sagt sie. Für ihren Dokumentarfilm Reveil sur Mars, hat sie sich intensiv damit befasst, wie sich Traumata über Generationen hinweg zeigen.
In Reveil sur Mars porträtiert Gjinovci die Familie Demiri, die auf Grund der Verfolgung von Minderheiten nach dem Krieg nach Schweden flüchtete. Die beiden Teenage-Töchter der Demiris leiden an dem Resignationssyndrom. Schwer traumatisiert von der Flucht, fielen sie vor drei Jahren in eine Art Koma.
Die Regisseurin begleitete die Familie über mehrere Monate und zeigt in Reveil sur Mars, wie die Eltern und Brüder versuchen, nicht die Hoffnung zu verlieren und die neue Heimat als Chance zu sehen.
Es ist ein Film über Flucht, Trauma, eine gewalttätige Asylpraxis – aber trotzdem ist es kein politischer Film, sondern ein psychologischer. «Ich wollte mich von der Politik lösen und stattdessen auf den Kern und die Werte unserer Gesellschaft zurückkommen», hat Gjinovci in einem InterviewExterner Link vor zwei Jahren gesagt. «Kulturelle Aufarbeitung, wie im Film, ist in gewisser Weise kraftvoller als Politik», sagt sie heute. Politik lasse die Menschen mit ihrem Schmerz alleine.
Editiert von Benjamin von Wyl.
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