Rituale am 1. August: «Ich sage ja nicht, dass alle Politiker Pfarrer sind»
Nationalstaaten entkommen der Macht der Religion auch dann nicht, wenn sie Kirche und Staat radikal trennen – denn sie sind auf Rituale und Glauben angewiesen. Der Zürcher Religionswissenschaftler David Atwood im Gespräch über Höhenfeuer, Lampions und Bundesrats-Schwüre.
SWI swissinfo.ch: Am 1. August entfacht die Eidgenossenschaft wie jedes Jahr grosse Feuer und huldigt der Nation. Das hat etwas Archaisches, denken Sie da als Religionswissenschaftler nicht auch an einen Hexensabbat?
David Atwood: Naja, an ein okkultes Ritual denke ich da nicht gerade. Aber natürlich: Feuer sind in Ritualen vermutlich schon seit der Steinzeit wichtiger Bestandteil.
Wie kam der 1. August zu den Feuern?
Als der 1. August als Neuerfindung Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde, hat man verschiedene Dinge kombiniert. Vorbilder für die 1.-August-Feuer sind wohl die Höhenfeuer, die in den Alpen eine jahrhundertealte Tradition haben.
Später kamen die Lampions hinzu, ein Import aus Asien. Traditionen sind ja meistens das kreative Resultat von kulturellen Übernahmen.
Was hatten die ursprünglichen Höhenfeuer für eine Funktion?
Einerseits wurden sie zur Kommunikation verwendet: Man zeigte verwandten Kleingruppen, wo man gerade ist oder ob Gefahr droht.
Sie waren eine Form von Kommunikation von Stammesgesellschaften?
Genau. Andererseits hatten sie eine Schutzfunktion und sollten böse Geister bannen. Wobei gerade Aussagen über diese Frühphase der Menschheit spekulativ sind, und es auch andere Theorien über ihre Entstehung gibt.
Neben den Feuern schwenkt man Flaggen mit Schweizerkreuz. Ist das weisse Kreuz auf rotem Grund mittlerweile von jeder religiösen Bedeutung entkleidet?
Es ist ein christliches Symbol, das man aber zu einem nationalstaatlichen Symbol umgeformt hat.
Die alten Eidgenossen verglichen sich ja gerne mit dem Volk Israel, wie es in der Bibel, in der Genesis beschrieben ist. Auch sie sahen sich als auserwähltes Volk. Was für eine Rolle spielt das für die Nationsbildung?
Das war in der Neuzeit eine sehr erfolgreiche Idee. Der Zürcher Reformator Heinrich Bullinger hat auch behauptet, die Schweiz sei das auserwählte Volk Gottes.
Die Eidgenossen sahen sich als das Volk, das die Berggegenden und damit den Übergang zwischen Nord -und Südeuropa christianisiert und sozusagen das Tor für den Vatikan in Richtung des germanisch-heidnischen Nordens geöffnet hatte.
Intellektuelle in umliegenden Ländern stellten diese göttliche Sonderstellung des Schweizer Volkes in Abrede – aber die Schweiz war auch nicht das einzige Land, das solches proklamierte.
In den USA ist die Auserwähltheit nach wie vor Teil der nationalen Rhetorik. In der Schweiz verschwand das dann im 17. Jahrhundert, mehr oder weniger.
Die Französische Revolution stellte sich in klare Konkurrenz zur Religion: Man strich z.B. das «Saint» in Strassennamen. Inwiefern ist diese Konkurrenz zwischen Staat und Religion grundlegend für demokratische Staaten?
Diese Konkurrenz wird bereits bei den Kirchenvätern angelegt, Augustin spricht schon im 4. Jahrhundert nach Christus von zwei Reichen. Er fragt sich: Wie gehen Christen mit dem römischen Staat um? Was gibt man dem Kaiser, was Gott? Ähnliche Fragen kommen auch im 30-Jährigen Krieg auf, wo es um die Konfessionskonflikte geht.
Aber in der Französischen Revolution werden zum ersten Mal Teile des Staates selbst als heilig beschrieben. So hat man nicht nur die Heiligen aus den Strassennamen gestrichen, sondern aus den Kirchen «Tempel für die Vernunftsgöttin» gemacht.
Der Genfer Philosoph Jean Jacques Rousseau beschrieb das als «Zivilreligion»: Was meinte er damit?
Am Schluss seiner Überlegungen zum Gesellschaftsvertrag kommt er zur Frage, wie Individuen zu einer Gemeinschaft zusammenfinden, mit ihren unterschiedlichsten Ansichten – wie kriegt man das hin? Rousseau sah eine Religion der Bürger:innen als Antwort. Jede:r muss gewisse Glaubenssätze mittragen.
Zum Beispiel?
Den Glauben an die Verfassung beispielsweise. Die steht für Rousseau auch über der individuellen Religion. Zunächst sollen Staatsangehörige für Rousseau Verfassungsgläubige sein, erst in zweiter Linie haben sie eine Religionszugehörigkeit.
Gibt es ein Zuviel an Zivilreligion?
Staaten können durchaus zu totalitären Gebilden werden, die ihre Bürger:innen dazu zwingen, bestimmte Sachen zu glauben und mitzutragen, also jenseits des Rechtsstaats eine homogene Identität zu pflegen. Damit meine ich nicht theokratische Staaten wie den Iran, die im Namen einer bestimmten Religion totalitär werden.
Ich meine Staaten wie Deutschland im Nationalsozialismus, in denen staatliche Mythen und Rituale eine enorme Rolle erhalten. Die Fackelmärsche der Nazis sind für mich so ein Beispiel – da haben Sie auch wieder das Feuer.
Ich denke aber, es ist wichtig zu sehen, dass dieses zivilreligiöse Element in allen Staaten irgendwo vorhanden ist. Die Konkurrenz von Kirche und Staat hat uns verlernt zu sehen, dass Religion nicht nur bei den Kirchen auftaucht, sondern auch im Staat. Das heisst ja nicht gleich, dass alle Politiker:innen eigentlich Pfarrer:innen sind.
Wo sehen Sie diese Zivilreligion in der Schweiz?
In der 1. August-Rede beispielsweise. Jedes Jahr beantworten Politiker:innen die Fragen: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Sie entwerfen einen nationalen Mythos – nicht im Sinne einer falschen Geschichte, sondern im Sinne eines Bilds der Schweiz, in der wir leben wollen.
Das ermöglicht auch Gegenentwürfe, wie sie zum Beispiel das Institut für eine Neue Schweiz entwirft: Was ist eine postmigrantische Schweiz?
Aber ist das religiös?
Wenn wir Religion als die gesellschaftliche Formierung von Mythen über Rituale verstehen: Ja. Auch in Nationalstaaten braucht es Inszenierungen, um Legitimität und Glaubwürdigkeit zu erzeugen.
Ideen entfalten ihre Wirkmächtigkeit dadurch, dass wir auf Plätzen in einer Masse stehen, dadurch bemerken wir, dass wir Teil einer Gemeinschaft sind. Gemeinschaften sind auf dieses inszenierte Moment angewiesen.
Können Sie ein Beispiel geben?
Schauen Sie sich mal die Amtseinführung von Bundesrät:innen an – da muss ein Eid geschworen werden. Man wird durch diesen Eid zu einer anderen Rechtsperson, einer Frau Bundesrätin oder einem Herrn Bundesrat. Das muss rituell übergeleitet werden.
Der italienische Philosoph Giorgio Agamben sagt, dass jeder Eid, jeder Schwur ein religiöser Akt ist, in dem wir bezeugen, dass das, was wir gerade sagen, wahr ist. Wenn ich jetzt lüge, dann kann ich dafür bestraft werden. Der Eid ist ein typisches Beispiel für dieses rechtlich-religiöse Gemisch – und die Schweiz nennt sich ja auch «Eid»-Genossenschaft.
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